Im Kontext von Verschwörungstheorien taucht immer wieder einmal die Behauptung auf, dass ausgerechnet die entscheidenden Zeugen oder die entscheidenden Dokumente verschwunden sind.
Zeugen und Dokumente, mit denen sich die Behauptungen der Verschwörungsgläubigen belegen liessen, sind leider unauffindbar, entwendet, zerstört, entführt oder ermordet worden…..
Auf dieses Phänomen hat der Historiker Richard J. Evans in seinem Buch «Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien» mehrfach hingewiesen. Er beschreibt darin unter anderem die Verschwörungstheorien rund um den Reichstagsbrand im Februar 1933. Dabei spielte das bei Verschwörungsgläubigen sehr beliebte «Cui-bono-Prinzip» eine wichtige Rolle. Es besagt: Wer von einem Ereignis profitiert, der steckt als Verursacher dahinter. Die Nationalsozialisten haben vom Reichstagsbrand politisch profitiert, also müssen sie ihn auch geplant und durchgeführt haben. Das «Cui-bono-Prinzip» beweist aber gar nichts und führt oft in die Irre. Wenn Fritz davon profitiert, dass die Lehrerin krank ist, weil er dann seine Prüfung nicht schreiben muss, heisst das noch lange nicht, dass Fritz die Krankheit der Lehrerin verursacht hat.
Ganz im Sinne des «Cui-bono-Prinzips» haben verschiedene Autoren mit Dokumentationen versucht zu belegen, dass die Nationalsozialisten selber hinter dem Reichstagsbrand stecken.
Dabei wurde immer wieder auf angebliche Zeugen verwiesen, die aus unterschiedlichen Gründen leider nicht mehr am Leben waren.
Tote Zeugen beweisen nichts
Der Verweis auf tote Zeugen gibt einer Theorie aber noch keine Glaubwürdigkeit. Richard J. Evans schreibt zu einer Dokumentation aus den 1970er-Jahren:
«Ein besonderer Aspekt der Dokumentation war die Behauptung, eine ganze Reihe angeblich lästiger Zeugen der nationalsozialistischen Urheberschaft der Brandstiftung sei in den anschliessenden Monaten, insbesondere in der ‘Nacht der langen Messer’, Hitlers Säuberung der SA Ende Juni 1934, ums Leben gekommen: Oberfohren war wenige Wochen nach dem Brand tot an seinem Schreibtisch aufgefunden worden, Breiting wurde 1937 angeblich von der Gestapo vergiftet. Solche mysteriösen Todesfälle von vermeintlichen Schlüsselzeugen oder Beteiligten sind ein wesentliches Element in vielen der Verschwörungstheorien, die auch viele Jahre später um Kennedys Ermordung gesponnen wurden.» (Seite 144)
Dasselbe Phänomen sieht Evans auch noch in einer Dokumentation aus den 1990er-Jahren:
«Kritikern fiel erneut ein Kennzeichen von Verschwörungstheorien auf, der mysteriöse Tod von Hauptbeteiligten der Verschwörung kurz nach dem Ereignis. Bahar und Kugel behaupteten sogar, die ‘Nach der langen Messer» sei nicht zuletzt ausgelöst worden, um Personen zum Schweigen zu bringen, die die Wahrheit hätten ans Licht bringen können. Aber warum wurde dann fast anderthalb Jahre damit gewartet?» (Seite 147)
Mit der ‘Nacht der langen Messer’ sind die Morde in Zusammenhang mit dem angeblichen «Röhm-Putsch» gemeint.
Verschwundene Dokumente zu Hess-Flug nach Schottland
Im Rahmen von Verschwörungstheorien spielen oft nicht nur verschwundene Zeugen, sondern auch verschwundene Dokumente eine Rolle. Darauf geht Richard J. Evans im Zusammenhang mit dem Flug des Führer-Stellvertreters Rudolf Hess nach Schottland ein:
«Aber der Mangel an Beweisen hat Verschwörungstheoretiker nicht daran gehindert, zu behaupten, Hitler habe Hess beauftragt, nach Schottland zu fliegen. Vermisste Papiere, zensierte Dokumente und geschlossene Archive spielen in historischen Verschwörungstheorien eine grosse Rolle….
So wie im Fall des Reichstagbrands angeblich Schlüsselzeugen verschwunden sind, verschwanden im Fall des Hess-Flugs Schlüsseldokumente. Die Geisteshaltung, die hinter beiden Annahmen steht, ist im Wesentlichen die gleiche. In beiden Fällen wird unterstellt, sie seien absichtlich versteckt oder, was als noch wahrscheinlicher gilt, vernichtet worden, um die Wahrheit vor der Nachwelt zu verbergen.» (Seiten 192/193)
Auch rund um den Hess-Flug erschien eine ganze Reihe von Publikationen, die über verschwundene Zeugen und verschwundene Dokumente spekulieren. Richard J. Evans schreibt dazu:
«Solche Spekulationen sind das tägliche Brot von Verschwörungstheoretikern: Schlüsselzeugen und wichtige Dokumente, die, offenbar um konspirative Verwicklungen zu verbergen, unter mysteriösen Umständen verschwinden. Verschwörungstheoretiker, um es zu wiederholen, nehmen ein weithin bekanntes bedeutendes Ereignis der modernen Geschichte, das von einem Einzelnen ausgelöst wurde, und behaupten, es müsse das Ergebnis von kollektivem Planen und Handeln hinter den Kulissen sein. Wenn nur Beweise dafür vorhanden wären, würde sich schlüssig beweisen lassen, dass es so war. Leider belegen alle Beweise im Fall Hess, dass er allein und auf eigene Initiative gehandelt hat. Den Behauptungen des Gegenteils fehlt jegliche Grundlage.» (Seite 216/217)
Quelle der Zitate:
Richard J. Evans, «Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien», DVA Verlag 2020
Anmerkung:
Selbstverständlich gibt es in der Geschichte auch Fälle, in denen lästige Zeugen und unerwünschte Dokumente vernichtet wurden. Das heisst jedoch nicht, dass im Umfeld eines Ereignisses gestorbene Personen oder unauffindbare Dokumente immer ein Geheimnis enthalten, mit dem sich Behauptungen von Verschwörungstheoretikern belegen liessen.
Die Schwierigkeit mit möglichen Zeugen, die tot sind, und mit möglichen belastenden Dokumenten, die verschwunden sind, liegt darin, dass sich nicht überprüfen lässt, was sie uns allenfalls sagen könnten. Eine Behauptung zu begründen damit, dass es dafür Zeugen gäbe, die aber leider alle tot seien, bringt für die Glaubwürdigkeit der Behauptung deshalb kaum Nutzen. Der Verweis auf verschwundene Zeugen und verschwundene Dokumente ist deshalb oft nicht viel mehr als eine bequeme Ausrede.
Menschen können aus unterschiedlichen Gründen sterben und Dokumente verschwinden manchmal auch durch Unachtsamkeit oder zufällige Einflüsse. Aber Zufall können Verschwörungstheoretiker kaum akzeptieren. Für sie muss es immer lan und Absicht geben. Siehe dazu auch:
Kontingenzbewältigung / Zufalls-Verleugnung