Wie können Verschwörungstheorien unsere Fähigkeit, Fakten und Fiktion zu unterscheiden, so leicht unterlaufen? Wodurch bekommen sie ihre Überzeugungskraft? Wie schaffen sie es, uns sogar hin und wieder von der Richtigkeit ihrer Behauptungen zu überzeugen? Wodurch gelingt es ihnen, unsere Urteilskraft zu überlisten?
Kurz gesagt lautet die Antwort: Indem sie in kleinen Schritten vorgehen.
Eine gute Verschwörungstheorie präsentiert fortschreitend Behauptungen, die für sich genommen unverdächtig und intuitiv einleuchtend erscheinen. Dann folgt unvermittelt eine These, die wir ohne diese Einstimmung und Vorbereitung aus dem Stand kaum akzeptiert hätten.
Erster Schritt zur Überzeugungskraft:
Verschwörungstheorien starten damit, Zweifel an der offiziellen Erklärung zu säen. Manchmal können sie auch auf schon vorhandene Zweifel an der offiziellen Version aufbauen und sie dann geschickt verstärken. Das Mittel der Wahl ist in dieser Phase, gezielt nach Dingen zu fragen, auf die die offizielle Version keine Antworten geben kann. Darüber hinaus ist wichtig der beharrliche Hinweis auf (vermeintliche) Ungereimtheiten und Brüche in der offiziellen Version. An diesem Punkt greifen Verschwörungstheorien auf allgemein bekannte und wenig umstrittene Sachverhalte zurück.
Im Hinblick auf ihr Argumentationsziel heben sie allerdings schon bestimmte Daten hervor und spielen die Bedeutung anderer herunter oder verschweigen sie gleich vollständig. Um die Überzeugungskraft des Zweifels an der offiziellen Version zu steigern, werden zudem «Belege» und «Beweise» vorgeführt, die den Zweifel stützen sollen. Schon hier kommt es zur Vermischung von weitgehend unstrittigen Aussagen aus unverdächtigen und seriösen Quellen mit Behauptungen, deren Status bestenfalls fragwürdig ist. Eine zusätzliche unterstützende Massnahme ist der direkte Angriff auf die Vertreter und Verteidiger der offiziellen Linie – zum Beispiel Experten. Diese werden nach allen Regeln der Rhetorik als voreingenommen, korrupt, unglaubwürdig und borniert diffamiert.
Zweiter Schritt zur Überzeugungskraft:
Die Verdachtsmomente gegen die offizielle Erklärung, diffuse Bedenken und Ängste und möglicherweise sogar schon vorhandene alternative Erklärungen sind in einer logisch schlüssigen Weise zu bündeln. Aus den Zweifeln und Verdachtsmomenten gegen die etablierte Sicht und den eigenen Behauptungen ist eine überzeugende Verschwörungstheorie zu schmieden.
Dabei ist es nützlich, vergleichsweise leicht zu überprüfende, seriöse Belege mit (oft fragwürdigeren) Quellen zu mischen, die sich nur mit erheblichem Auswand überprüfen lassen – zum Beispiel YouTube-Videos, Zitate aus Radiosendungen, Zitate aus Büchern und Zeitungen mit Paywall.
Es geht dabei um den Versuch, Dinge und Ereignisse miteinander in Verbindung zu bringen, die normalerweise wenig bis nichts miteinander zu tun haben.
Dritter Schritt zur Überzeugungskraft:
Wenn die Verschwörungstheorie überzeugen soll, müssen die «Daten“ und Behauptungen am Ende schlüssig und stimmig zusammenfügen. Dazu braucht es rhetorisches Können, erzählerische Phantasie und Formulierungskunst.
Die wichtigsten Hürden für die Umgehung unserer Urteilskraft sind genommen, wenn der fertigen Verschwörungstheorie nicht mehr anzusehen ist, was als gesichert gelten kann, was tendenziöse Unterstellung ist und was reine Fiktion.
Auch wenn bestimmte Zusammenhänge selbst bei tendenziöser Auslegung nur vage sichtbar werden, spricht das für die verschwörungstheoretische Erklärung. Denn das Fehlen eindeutiger Beweise ist für Verschwörungsgläubige immer noch der stärkste Beweis, dass hier Menschen von IHNEN, den Verschwörern, daran gehindert werden, ihr Wissen offen zu verbreiten und ein Beleg IHRER Macht, IHRE finsteren Machenschaften zu vertuschen.
Vierter Schritt zur Überzeugungskraft:
Der Erfolg einer Verschwörungstheorie lässt sich dadurch steigern, dass den Verschwörern ein überzeugendes Motiv unterstellt wird. Der Hinweis darauf, welche Absicht die Verschwörer mit ihrem Tun hegen und welche Vorteile es ihnen bringt, dies im Verborgenen und nicht offen zu tun, kann die zum Teil konstruierten Gedankenverbindungen vieler Verschwörungstheorien erheblich stabilisieren.
Die Frage «Cui bono?», «Wem zum Nutzen?», ist ein zentrales Element vieler Verschwörungstheorien.
Siehe dazu:
Cui bono? – ein Leitmotiv in Verschwörungstheorien
Das Bedürfnis, hinter allem menschlichen Handeln ein Motiv zu suchen, zählt nicht umsonst zu den Konstanten unserer sozialen Erklärungen. Die Verschwörungstheorie soll ihrem Anspruch gerecht werden, keine Fragen offen zu lassen und in ihrer Stimmigkeit und Erklärungsleistung die offizielle Version zuverlässig zu ersetzen. Dazu ist es sehr hilfreich, den «Nutzen» für die Verschwörer wenigstens anzudeuten, um die Überzeugungskraft des Konstrukts durch Auslassungen an dieser Stelle nicht unnötig zu schwächen.
Quelle:
Verschwörungstheorien, von Karl Hepfer, Transscript Verlag 2015
Nachtrag zur „Cui bono“-Frage:
Verschwörungsgläubige sind oft sehr auf die «Cui bono?»-Frage fixiert. Sie bietet einfache Erklärungen zu möglichen Verschwörern. Aber wie schon aus Krimis bekannt ist: Die Frage, wer einen Nutzen aus einem Verbrechen zieht, ist zwar wichtig. Doch sie führt nicht immer zum Schuldigen. Wenn jemand aus einem Verbrechen einen Nutzen zieht, heisst das noch nicht, dass er oder sie es begangen hat. Die «Cui bono?»-Frage beweist also gar nichts. Wer sich allein auf sie stützt, baut auf Scheinplausibiliät.
Abschliessend soll noch erwähnt werden, dass heute nicht mehr nur Verschwörungstheorien von Bedeutung sind, die im oben beschriebenen Sinn komplex konstruiert sind. Viel häufiger werden Verschwörungsgerüchte oder Verschwörungsgedanken nur mit Fragen und Andeutungen in die Welt gesetzt. Auf umfangreichere Begründungsversuche kann man dann verzichten. Nichtsdestotrotz wird dadurch eine Verschwörungsmentalität gefördert, die demokratische Institutionen und Prozesse schwächt.