Verschwörungstheorien erfüllen ganz unterschiedliche Funktionen. Eine wichtige Funktion ist aber, dass sie den Zufall negieren. In einem Interview mit Deborah Roth vom Magazin «National Geographic» hat der Sozialpsychologe Roland Imhoff diese Funktion auf den Punkt gebracht:
«Verschwörungstheorien operieren häufig nach dem Prinzip, unverbundene Aspekte eines Ereignisses zu einer stimmigen Verkettung zusammenzuziehen. Das ist eines der großen Potenziale von Verschwörungstheorien: Sie negieren den Zufall. Menschen mögen den Zufall nicht, weil er uns seinen Launen ausliefert. Wenn nun nicht der Zufall einen Virus mutieren lässt oder ein Flugzeug abstürzen lässt, sondern der geheime Plan einiger Individuen, dann eröffnet das die Option, die Welt vorhersagbar zu halten und eben auch zu kontrollieren – indem ich den Verschwörern das Handwerk lege. Eben diese basale Tendenz, statt dem Zufall einen Plan am Werk zu sehen, finden wir auch schon bei sehr trivialeren Fragen: ob in zufälligen Zahlenreihen ein Muster vorliegt oder sich über einen Bildschirm bewegende Figuren dies intentional tun. Dies wird beides eher bejaht von Menschen, die auch eher Verschwörungstheorien zustimmen.»
Roland Imhoff ist Psychologe und lehrt als Professor für Sozial- und Rechtspsychologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er forscht unter anderem in Sachen Verschwörungsmentalität.
Quelle:
GESCHICHTE UND KULTUR:
Radikalisierte Querdenker: „Das regelt sich nicht von selbst” (National Geographic)
Ergänzend zum Thema Zufall & Verschwörungstheorien:
Der Zufall stellt uns Menschen immer wieder vor Herausforderung, denn er ist ein Faktor im Leben, den wir nicht im Griff haben. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass wir immer wieder nach Möglichkeiten suchen, den Zufall auszublenden. Und Verschwörungstheorien sind – wie Roland Imhoff geschildert hat – eine Möglichkeit der Kontingenzbewältigung (Zufalls-Verleugnung).
Imhoff erwähnt das Beispiel eines Flugzeugunfalls. Ein konkretes Beispiel dafür ist der Flugzeugabsturz im russischen Smolensk. Für die polnische PiS ist dieser Absturz nicht verursacht durch einen unglücklichen Zufall oder durch Fehler der Piloten, die in dichtem Nebel zur Landung ansetzten, sondern Folge eines Attentats.
Verschwörungstheorien rund um diesen Flugzeugabsturz teilen die Bevölkerung Polens bis heute in zwei Lager. Beim Flugzeugabsturz kam ein grosser Teil der polnischen Elite ums Leben. Hier kommt noch der Proportionality Bias ins Spiel (Verhältnismässigkeits-Fehlschluss): Er beschreibt die Annahme, dass «grosse Ereignisse» auch grosse Ursachen haben müssen.