Schwarz-Weiss-Denken
Zu den wichtigen Erkennungsmerkmalen und kritischen Punkten von Verschwörungstheorien gehört, dass sie die Welt scharf und vereinfachend in Gut und Böse einteilen. Und das auch noch entlang von ziemlich willkürlich gewählten Feindbildern. Sie unterstellen konsequent böse Absichten, wo vielleicht nur Dummheit, Fehlverhalten oder Irrtum vorliegt. Die komplexe Realität politischer und wirtschaftlicher Prozesse wird auf ein eindimensionales Freund-Feind-Schema reduziert. Den Verschwörungstheorien fehlen die Zwischentöne. Sie sind gefangen in manichäischen Gegensätzen. Dahinter steckt der Begriff «Manichäismus». Damit wird ursprünglich eine Offenbarungsreligion aus der Spätantike und dem frühen Mittelalter bezeichnet, die auf den Perser Mani zurückgeht. Manis Lehre ist charakterisiert durch eine scharfe Unterscheidung zwischen einem Prinzip des Lichts und einem Prinzip der Finsternis. Zum heutigen Gebrauch des Begriffs «Manichäismus» schreibt Wikipedia:
«In der Gegenwart wird der Begriff verwendet, um Ideologien zu kennzeichnen, die die Welt ohne Zwischentöne in Gut und Böse einteilen, wobei sie den Feind zum existenziell bedrohlichen, wesenhaft Bösen stilisieren. Dem liegt zumeist ein eschatologischer Zug zugrunde. Als manichäisch in diesem Sinne werden in den Sozialwissenschaften etwa christlicher Millenarismus, Antisemitismus, der Nationalsozialismus und verschiedene Verschwörungstheorien beschrieben.»
Zu diesem Freund-Feind-Denken passt auch, dass Verschwörungstheorien oft Sündenböcke anbieten.
Sündenböcke können zu Gewalt führen
Jan Skudlarek schreibt dazu in seinem Buch „Wahrheit und Verschwörung“:
„Verschwörungstheorien erklären die Welt nicht nur. Meistens bieten sie Sündenböcke.
Sagen Ihnen, wer die Steinewerfer sind. Die Hintermänner. Die Volksverräter. Und dann können Sie handeln. In diesem Sinne sind Verschwörungstheorien handlungsleitend. Leider.
Wir haben gesehen, dass Verschwörungstheorien attraktive Erklärungsmodelle für eine komplizierte Wirklichkeit bieten. Doch sind sie hilfreich?
Das erste Problem: Sie sind nicht wahr. Sie bieten in der Regel schlechte Beschreibungen unserer Wirklichkeit. Verschwörungstheorien vermischen Fakt und Fiktion, Plausibles und Unplausibles, Sinn und Unsinn.
Das zweite Problem ist noch schwerwiegender: Verschwörungstheorien sind nicht nur nicht wahr – sondern sie haben auch Konsequenzen. Sie erzeugen irreale Gedanken mit realen Folgen. Anhänger von Verschwörungstheorien zeigen mit dem Finger auf eine Gruppe von vermeintlichen Verschwörern und sagen: «Die da sind schuld!» Menschen sehen sich dadurch zu Taten berufen. Ihr Motiv ist nachvollziehbar: Es geht darum, jene Kontrolle zurückzuerlangen, von der man glaubt, dass man sie längst verloren hat. Es ist also nicht egal, was man denkt. Die Gedanken sind frei. Die Freiheit der Gedanken ist aber nicht folgenlos. Wirklichkeit wirkt.“
Siehe auch:
Verschwörungstheorien bieten Sündenböcke – und manche gefährliche Folgen
Der Sündenbock-Mechanismus steht oft am Ausgangspunkt von Gewaltausbrüchen und Genoziden. Darin liegt eine der Gefahren von Verschwörungstheorien.
Verschwörungstheorien reduzieren Komplexität und führen dadurch in die Irre
Verschwörungstheorien sind ein Angebot zur Reduktion politischer Komplexität, aber ein Angebot, das in die Irre führen und gefährlich werden kann. Es steht einem adäquaten Verständnis der Wirklichkeit entgegen und kann dadurch problematische politische Entscheidungen zur Folge haben.
Verschwörungstheorien führen wichtige Ereignisse nur auf eine einzige entscheidende Ursache zurück, nämlich die Verschwörung, die sie meinen, entdeckt zu haben. Dadurch vermindern sie die Komplexität der sozialen Realität enorm.
Anstelle von Chaos und Zufall, die sie schwer ertragen können, sehen Verschwörungstheoretiker einen Plan. Dadurch wird die Welt scheinbar durchschaubarer. Doch die scharfe Unterteilung der Welt in Gut und Böse kann auf der persönlichen wie auf der politischen Ebene desaströse Auswirkungen haben.
Siehe:
Wie Verschwörungstheorien die politische Komplexität reduzieren und dadurch in die Irre führen
Verschwörungstheorien basieren auf einem fragwürdigen Menschen- und Geschichtsbild – Geschichte ist nicht planbar
Michael Butter schreibt dazu in seinem informativen und lesenswerten Buch «Nichts ist, wie es scheint»:
«Das vielleicht stärkste Argument gegen Verschwörungstheorien ist aber, dass diesen ein in den modernen Sozialwissenschaften mittlerweile radikal infrage gestelltes Menschen- und Geschichtsbild zugrunde liegt. Verschwörungstheorien basieren auf der Annahme, dass Menschen den Verlauf der Geschichte ihren Intentionen entsprechend lenken können, dass Geschichte also planbar ist. Sie schreiben den Verschwörern die Fähigkeit zu, über Jahre, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg die Geschicke eines Landes oder gar der Welt zu bestimmen.
Oft verstehen sie sogar die Geschichte an sich als eine Abfolge von Komplotten einer oder verschiedener Gruppen. Somit sehen sie die Welt radikal anders als die Psychologie, die Soziologie oder die Politikwissenschaft. Der Psychologie zufolge ist der Mensch nicht Herr seiner selbst, wie Sigmund Freund es prägnant formuliert hat; er weiss oft gar nicht genau, was er will und was nicht, und hat entsprechend Schwierigkeiten, seine Absichten in die Tat umzusetzen. Doch selbst wenn er es immer wüsste, könnte er es nicht, da soziale Systeme, wie Soziologie und Politikwissenschaft gezeigt haben, ein Eigenleben führen und Effekte generieren, die niemand intendiert hat.»
Montesquieus zu den Bedingungen und Grenzen menschlichen Handelns
Die Bedingungen und Grenzen menschlichen Handelns hat schon der französische Schriftsteller, Philosoph und Staatstheoretiker Montesquieu (1689 – 1755) beschrieben. Er wollte einerseits Einsichten in das menschliche Handeln gewinnen und betont in seinem gesamten Werk, dass der Zufall nicht unumschränkt herrscht, dass die geschichtliche Welt Gesetzen folgt und dass Politik zum Objekt strengen Wissens werden kann. Andererseits spricht er immer wieder von gesellschaftlichen Gegebenheiten, die der Politik und den Herrschenden vorgegeben sind und die Handlungsmöglichkeiten der Menschen insgesamt begrenzen und beschränken. Daraus folgt für ihn, dass gesellschaftliche und historische Entwicklungen nur wenig beeinflussbar sind.
In seiner Jugendschrift „De la Politique“ äussert sich Montesquieu eher spöttisch zum eitlen Anspruch der Politik auf Erkenntnis der Menschen und der Ursachen für gesellschaftliche Veränderungen:
„Die meisten Wirkungen ereignen sich auf so eigentümliche Weise oder hängen von so unmerklichen oder fernen Ursachen ab, dass man sie nicht voraussehen kann.
….Die menschliche Umsicht trägt nicht weit. Bei den meisten Gelegenheiten braucht man sich gar nicht erst zu beraten, denn ganz gleich, welche Partei man ergreift, solange die grossen Nachteile nicht unmittelbar ins Auge springen, sind alle gut.
….Selten nur kennen die grossen Politiker die Menschen. Da sie sich klug und geschickt anstellen, meinen sie, dass die anderen Menschen es ebenso tun. Es ist aber keineswegs so, dass alle Menschen klug sind: sie handeln vielmehr fast immer nach Laune oder nach Leidenschaft oder handeln einfach nur um zu handeln und damit niemand sage, sie handelten nicht.“
(zitiert nach: Jean Starobinski, Montesquieu, Hanser 1991)
Damit stellt schon Montesquieu die Planbarkeit von Geschichte in Frage. Allerdings muss aus heutiger Sicht noch ergänzt werden, dass Politikerinnen und Politiker inzwischen Dank der Daten, die wir konstant, gratis und freiwillig an Konzerne wie Google, Facebook & Co abgeben, sehr viel mehr über die Einstellungen der Menschen wissen.
Siehe auch:
Ein starkes Argument gegen Verschwörungstheorien: Geschichte ist nicht planbar
Schnelle Entstehung
Vor allem seit dem Aufkommen der Sozialen Medien lässt sich beobachten, wie rasch Verschwörungsmythen entstehen. Kaum wird ein Ereignis bekannt, zum Beispiel ein terroristischer Anschlag, kursieren schon die ersten Verschwörungsmythen auf Facebook und Twitter. Warum geht das so schnell?
Skudlarek (2019) schreibt dazu:
«Verschwörungsmythen werden…fast so schnell produziert wie die Ereignisse stattfinden, die den Anlass für ihre Formulierung bilden – was mit der Logik der Verschwörung selbst zu tun hat: Sie bedarf keiner Fakten, keiner Realität, keiner Wirklichkeit ausser ihrer selbst, um zu funktionieren. Es bedarf eben nur eines Anlasses, nicht einer Ursache, damit Verschwörungsphantasien formuliert werden…» (Salzborn 2017, S.122)
(Anmerkung: M. E. müsste es präziser heissen, ‘mit der Logik der Verschwörungsmythen’)
Verschwörungsmythen werden nicht nur schnell und fast ohne Aufwand produziert, sondern im Zeitalter von Facebook, Twitter & Co auch sehr schnell und kostenlos verbreitet. Das Debunking von Verschwörungstheorien ist dagegen viel langsamer und aufwendiger. Effiziente Lösungen für diese Probleme stehen noch aus.
Faktenresistenz wegen Bestätigungsfehler (Confirmation bias)
Der Bestätigungsfehler (Confirmation bias) ist eine der wichtigsten Quellen für fehlerhafte Entscheidungen und eingeschränkter Lernfähigkeit. Es handelt sich um die Neigung, Informationen so auszuwählen, zu ermitteln, zu interpretieren und zu erinnern, dass diese die eigenen Erwartungen erfüllen (bestätigen). Diese Neigung hat eindrückliche Konsequenzen im Alltag und für die Resistenz von Verschwörungstheorien.
Der englische Philosoph Francis Bacon (1561 – 1626) wies schon im Jahr 1620 auf dieses Phänomen hin:
„Hat der menschliche Verstand einmal eine Meinung angenommen, [….], so zieht er alles heran, um diese zu bestätigen und mit ihr zusammenzustimmen. Und selbst wenn sich für das Gegenteil mehr und weit bessere Beweise anbieten, so wird er diese mit grosser und schädlicher Voreingenommenheit ignorieren, verdammen oder sie durch Spitzfindigkeiten als irrelevant betrachten, auf dass die Autorität seiner ersten Annahme ungeschmälert erhalten bleibe.“
Auch der französische Schriftsteller, Philosoph und Staatstheoretiker Montesquieu (1689 – 1755) beschreibt diesen Schwachpunkt menschlichen Denkens:
„Man schafft sich nicht ein System, nachdem man die Geschichte gelesen hat, sondern man beginnt mit dem System und sucht sich anschliessend die Belege; und es gibt so viele Tatsachen im Lauf einer langen Geschichte, so viele verschiedene Ansichten, und ihre Anfänge sind gewöhlich so dunkel, dass man stets genug findet, um alle möglichen Ansichten für wahr auszugeben.“ (aus: Mes Pensées, zit. nach: Jean Starobinski, Montesquieu, Hanser 1991)
Siehe dazu:
Der Bestätigungsfehler im Alltag und als Kernelement von Verschwörungstheorien
„Cui bono?“ – auf deutsch: „Wem zum Vorteil?“.
Die Frage danach, wer von einem bestimmten Ereignis profitiert, ist ein zentraler Aspekt in Verschwörungstheorien. Das ist selbstverständlich eine zulässige Frage. Falsch ist nur die Schlussfolgerung der Verschwörungsgläubigen, dass derjenige, der profitiert, auch zwangsläufig derjenige ist, der das Ereignis initiiert und gesteuert hat.
«Gemeint ist damit: Wer hätte ein Motiv für eine derartige Inszenierung? Die selbstgewisse Antwort des Verschwörungsanhängers im Fall des World Trade Centers: natürlich die USA selbst, insbesondere deren Rüstungsindustrie. Durch den Terroranschlag hatten diese einen Vorwand, um in Afghanistan und im Irak Krieg führen zu können.
Bei der Frage nach dem Motiv machen es sich Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker jedoch allzu leicht. Wäre die Antwort auf die Frage „Wer war es?“ immer so leicht, dann wären Mordfälle sehr einfach zu lösen und der „Tatort“ im Ersten ziemlich langweilig. Oft ist eben gerade nicht die oder der Verdächtige mit dem klarsten Motiv die Täterin oder der Täter. Und nur weil ich davon profitiere, dass meine Lehrerin kurz vor der Klausur krank geworden ist, heißt das nicht, dass ich sie vergiftet habe.»
Quelle: Warum Verschwörungstheorien nicht tot zu kriegen sind (BPB)
Von einem bestimmten Ereignis können oft sehr unterschiedliche Leute oder Instanzen profitieren oder es im nachhinein für ihre Zwecke ausnutzen.
Siehe auch:
Cui bono? – ein Leitmotiv in Verschwörungstheorien
Je extremer das politische Denken, desto stärker die Neigung zu Verschwörungsideologien
Rechtsradikale, Linksextreme und Islamisten teilen sich bezüglich Verschwörungstheorien viel mehr, als sie sich vorstellen möchten. Je extremer die politischen Ansichten sind, desto stärker neigen Menschen zu Verschwörungsdenken.
Unabhängig davon, ob sie am Linken oder am rechten Rand des politischen Spektrums stehen. Dasselbe Phänomen lässt sich auch bei extremistischen Ausprägungen aller Religionen sehen. Verschwörungstheorien stärken hier die Gruppenzusammengehörigkeit, wirken identitätsstiftend, liefern Erklärungen für individuell erlebte Ungerechtigkeiten, legitimieren Gewalt und vermitteln die Überzeugung, im Lager der Guten zu stehen.
Neuere Trends im Reich der Verschwörungstheorien
Verschwörungstheorien passen sich in vielen Aspekten dem Zeitgeist an. Was sind die Charakteristika des zeitgenössischen Verschwörungsglauben?
☛ Die ungefilterte Verbreitung
Das Aufkommen des Internets und der sogenannten sozialen Medien hat die Ausprägung der heutigen Verschwörungstheorien und die Möglichkeiten ihrer Verbreitung entscheidend verändert. Sie sind ohne Aufwand im Netz innert Sekunden erreichbar und nur ein paar Klicks entfernt. Und sie sind ohne Aufwand, mit ein paar Klicks und ohne kritische Prüfung durch Redaktionen oder Lektorat verbreitbar.
☛ Alte und neue «Verschwörer»
In früheren Jahrhunderten wurden überwiegend Personen am Rand der Gesellschaft oder Minderheiten der Verschwörung beschuldigt. Oft verbreiteten sogar Regierungen solche Unterstellungen. Zeitgenössische Verschwörungstheorien in Europa und den USA richten sich oft gegen gesellschaftliche Eliten, die Regierung, Wirtschafts-, Finanz- und Wissenseliten, gegen Medien («Lügenpresse»).
Verschwörungstheorien, die sich gegen Eliten richten, werden zwar nur selten zu einer unmittelbaren Gefahr für jemandes Leib und Leben. Sie haben jedoch das Potenzial, die Krisen der demokratischen Systeme, die derzeit in Europa und Nordamerika zu beobachten sind, zu verstärken. Wer überzeugt davon ist, dass alle politischen Entscheidungen durch sie gesteuert werden, wird eher nicht mehr zur Wahl gehen, was in politischer Apathie endet. Oder die frustrierten Menschen werden polulistische oder extremistische Parteien wählen, die ihnen als einige wahre Alternative erscheinen. Wenn Leute bereit sind, irgendwelche Schauergestalten zu wählen, nur damit es anders wird, dann ist eine wesentliche Voraussetzung für faschistische Systeme geschaffen.
Mit dem wieder verstärkt sichtbar werdenden Antisemitismus bleibt aber immer auch noch eine Verschwörungstheorie gegen Minderheiten aktuell, die gerade in jüngster Zeit zunehmend auch zu Gewaltdelikten geführt hat.
Und inzwischen werden auch wieder explizit Verschwörungstheorien von Regierenden verbreitet und instrumentalisiert, insbesondere von populistischen Politikern. Zwei sehr deutliche Beispiele sind Donald Trump und Viktor Orbán. US-Präsident Trump verbreitet neben Verschwörungstheorien auch häufig Verschwörungsgerüchte (dazu im nächsten Abschnitt mehr). Michael Butter sagt dazu:
«Trump macht das sehr geschickt. Er bedient nämlich fast immer nur Verschwörungsgerüchte. Er sagt zum Beispiel: „Ich hab gehört, dass der Vater von Ted Cruz sich mit Lee Harvey Oswald getroffen hat, ein paar Tage, bevor der John F. Kennedy erschossen hat. Think about it!“ Belege liefert er dafür nicht. Das ermöglicht es ihm, sich rauszureden, wenn er darauf festgenagelt wird. Er kann dann sagen: Ich hab das nur gehört. Das ist raffiniert…. Einerseits signalisiert er den Verschwörungstheoretikern: Ich bin einer von Euch. Und allen anderen signalisiert er: Na ja, so wild ist es gar nicht nicht.»
Quelle: Cicero
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat sich quasi eine auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Verschwörungstheorie gebastelt, die er intensiv bewirtschaftet: den aus Ungarn stammenden US-amerikanischen Philanthrophen und Investor George Soros.
☛ Neue Formen der Erzählung / Darstellung (Narrationen)
Auch die Form, in der Verschwörungstheorien heute verbreitet werden, hat sich gegenüber früher verändert. Es gibt nicht nur die ausführlichen Texte, die die «Theorien» erläutern und «Beweise» liefern.
Da via Internetzugang jeder Verschwörungsbehauptungen verbreiten kann, gibt es oft nicht mehr die eine, dominierende Theorie zu einem Thema, sondern mehrere, sich ergänzende und manchmal auch sich widersprechende Thesen. Es dominiert eine fast endlose Fülle an kleinen und grösseren Amateurbeiträgen, deren Verfasser sich auf Plattformen wie YouTube austoben und zu einem Ereignis eigene Deutungsangebote vortragen.
Manchmal handelt es sich eher um Verschwörungsgerüchte. Sie machen auf Ungereimtheiten aufmerksam, wecken Zweifel an der offiziellen Version von Ereignissen, bleiben aber konkrete Angaben zu den Verschwörern, ihren Motiven oder gar zu Beweisen schuldig. Weil Verschwörungsgerüchte sehr unspezifisch und vage bleiben, sind sie sehr anschlussfähig für viele Menschen und bieten mit ihren Lücken Projektionsflächen, die von «Empfängern» mit eigenen Vorstellungen ausgefüllt werden können. Die birther conspiracy theory zeigt Züge eines Verschwörungsgerüchts. Für die mehr oder weniger explizit geäusserte Unterstellung, Barak Obama sei nicht in den USA geboren, bieten die Texte weder Belege, noch nennen sie Verantwortliche, die hinter dem Komplott stecken. Das ist ein auffallender Unterschied zu vielen «klassischen» Verschwörungstheorien, die mit umfangreichen Daten und Scheinbelegen aufwarten.
Diese Lightversionen von Verschwörungstheorien beschreiben die beiden US-Politikwissenschaftler Russell Muirhead und Nancy Rosenblum in ihrem kürzlich erschienenen Buch “A lot of People are Saying“ als „New Conspiracism“. Sie beziehen sich damit auf Anhänger „alternativer Fakten“, inklusive des US-Präsidenten Donald Trump, der sich in einem Kampf gegen Eliten und einen verborgenen „deep state“ wähnt. Verschwörungstheorien hätten früher einen theoretischen, häufig sehr kompliziert ausformulierten Unterbau gehabt, so Muirhead und Rosenblum. Heute hingegen kämen Verschwörungsideen vollständig ohne Theorie aus. Der Soziologe Didier Fassin zieht es aber vor, bei solchen Lightversionen von Lügen zu sprechen, und nicht von Verschwörungstheorien: „Ich sehe das etwas plumper. Wer etwa behauptet, dass Barack Obama ein Muslim ist, lügt. Ebenso, wer die These vom ‚Großen Bevölkerungsaustausch‘ aufstellt. Man muss Lügen auch als solche bezeichnen – und nicht als Verschwörungstheorien.“ (Quelle: https://science.orf.at/v2/stories/2993505/)
Zum Thema „New Conspiracism“ hat Felix Simon in der NZZ einen sehr informativen Artikel publiziert: Die neue Art der Verschwörungstheorie: Es zählt die krude Behauptung
☛ Gegen wissenschaftliche Erkenntnisse
Aktuelle Verschwörungstheorien negieren oft wissenschaftliche Erkenntnisse. Das betrifft zum Beispiel den Nutzen von Impfungen oder die Fakten zur menschengemachten Klimaerwärmung. Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien zweifeln Studien und Forschungsresultate an, weil sie anerkannten Experten und traditionellen Wissenshierarchien häufig skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Sie erwecken jedoch oft selbst den Anschein von Wissenschaftlichkeit. Dazu führen sie vermeintliche ‘Beweise’ ins Feld, verwenden wissenschaftliche Begriffe, Statistiken und Fussnoten. Diese Inszenierung von Wissenschaftlichkeit wird Pseudowissenschaft genannt. Vor allem für Menschen, die mit Wissenschaft nicht vertraut sind, ist es nicht einfach, Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu unterscheiden. Pseudowissenschaftlich daherkommende Verschwörungstheorien sind daher oft schwer als solche zu erkennen.
Illustrative und vielfältige Beispiele für gegenwärtige Verschwörungstheorien, die wissenschaftliche Fakten negieren, gibt es im Bereich der Leugnung der Klimaerwärmung. Auch in diesem Bereich existieren widersprechen sich die gängigen Verschwörungstheorien zum Teil. Sie stellen zum Beispiel jegliche Klimaerwärmung in Abrede, akzeptieren die Erwärmung, bestreiten aber den menschlichen Einfluss, oder sie malen angeblich positive Auswirkungen einer Erwärmung in den schönsten Farben aus.
Die angeblichen Verschwörer sitzen laut den Leugnern der Klimaerwärmung in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft. So unterstellen sie zum Beispiel Klimatologen, mit der «Lüge» vom Klimawandel die Finanzierung der eigenen Forschungsprojekte zu sichern. Manche Verschwörungstheoretiker unterstellen «Klima-Alarmisten» und «Klimahysterikern», dass sie die Freiheit der Bevölkerung beschneiden und eine «Weltregierung» oder «Neue Weltordnung» errichten wollen.
Gut belegt ist inzwischen, dass an der Verbreitung der Verschwörungstheorie von der Nicht-Existenz der menschengemachten Klimaerwärmung Interessenvertreter vor allem der Erdölindustrie und der Erdgasindustrie beteiligt sind. Sie erwecken mithilfe von häufig fachfremden Experten und Wissenschaftlern und scheinbar neutraler Studien Zweifel an der Faktizität der menschengemachten Klimaerwärmung. Dazu gründen sie vermeintlich neutrale, «wissenschaftliche» Institute. So wird der irreführende Eindruck erweckt, dass die Klimaerwärmung in der Wissenschaft sehr umstritten sei. Die Klimaforscher sind sich jedoch weitestgehend einig, dass eine menschengemachte Klimaerwärmung existiert.
Zur Finanzierung klimawandelskeptischer Positionen gibt es eine Zusammenfassung auf Psiram.
☛ Kommerzialisierung
Ein wichtiges Kennzeichen der aktuellen Verschwörungstheorien ist das Entstehen einer «Verschwörungsindustrie». Der Verschwörungsglaube wird zunehmend kommerzialisiert. Inzwischen gibt es Verlage, die sich auf verschwörungstheoretische Bücher spezialisiert haben. Beliebt sind offenbar auch angebliche Wundermittel, die mit der Hoffnung verkauft werden, dass sie gegen die Folgen von angeblichen Verschwörungen schützen. So werden beispielsweise zur Vorbeugung gegen «Chemtrail-Erkrankungen» angeboten: Immunstärkung, Ziegenmilchpulver mit Kampfer, lichtangereicherte Zuckerkügelchen, Olivenöl mit Mohnblüten, Bio-Lichtkonzentrate….
Manche Personen bauen ganze Unternehmen auf, die sich der Vermarktung von Verschwörungstheorien widmen.
Ein Beispiel dafür ist der Brite David Icke (*1952) mit seiner «Supertheorie» einer Verschwörung von Echsenmenschen, die heimlich die Welt regieren. Er betreibt einen eigenen Onlineshop und verkauft darin seine Bücher, Fanartikel und Eintrittskarten für seine Vorträge.
In den USA hat Alex Jones (*1974) sogar eine eigene Radioshow, die er neben seiner Website nutzt, um seine Verschwörungstheorie vom Komplott der internationalen Eliten zu propagieren. In seinem Onlineshop verkauft auch Alex Jones ein breites Sortiment von Produkten rund um seine Verschwörungstheorien.
Wichtige Quelle für den Abschnitt «Neuere Trends im Reich der Verschwörungstheorien»:
Katharina Impelmanns: «Im Netz der Verschwörungstheorien – Verschwörungstheorien im 21. Jahrhundert», In: Verschwörungstheorien früher und heute, LWL, 2019
Verschwörungstheorien wirken oft entpolitisierend
Wer glaubt, dass alles durch geheime Mächte im Hintergrund gesteuert ist, wird in der Regel nur noch sehr wenig Motivation dafür aufbringen, sich konstruktiv im demokratischen politischen Prozess zu engagieren. Verschwörungstheorien haben deshalb oft einen entpolitisierenden Effekt.
Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard schreiben dazu:
„Werden Verdacht und Misstrauen so total und finden mehr Gehör als nur in kleinen Nischen, untergräbt das nicht nur Wissenschaft, Aufklärung und effektives politisches Handeln sowie die Lösung von Problemen. Es untergräbt auch die Demokratie selbst.“
(in: „Postfaktisch – Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien“)
Opfermentalität
Eine Opfermentalität ist häufig Bestandteil von Verschwörungstheorien. Mehr zu diesem Thema hier: Opfermentalität / Selbst-Viktimisierung
Ausserdem:
Checkliste Verschwörungstheorien mit weiteren Merkmalen von Verschwörungstheorien