Verschwörungstheorien sind kein neues Phänomen und sie kommen in unterschiedlichen Kulturen vor. Es scheint sich hier um ein Grundmuster menschlichen Denkens zu handeln, das insbesondere zur Krisenbewältigung dient. Aus Sicht der Psychologie gibt es evolutionäre Grundlagen der Neigung zu Verschwörungstheorien. Ob es Verschwörungstheorien auch in allen Zeitaltern der Menschheitsgeschichte gab, ist eine komplexere Frage. Die Antwort hängt stark davon ab, wie der Begriff «Verschwörungstheorie» definiert wird. Fasst man den Begriff weit, dann können der «Hexenwahn» und der «Teufelsglaube» auch zu den Verschwörungstheorien gezählt werden. Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass es auch im Mittelalter Verschwörungstheorien gab.
Legt man eher eine modernere Definition von «Verschwörungstheorie» zugrunde, zeigen sich aber auch prägnante Unterschiede.
Im stark religiös geprägten Mittelalter wurden irdische Ereignisse in erster Linie als Manifestation eines göttlichen Plans interpretiert und nicht als Werk menschlicher Akteure.
Geschichte wurde auf der Basis dieses Welt- und Menschenbildes nicht von Menschen gemacht.
Göttliche Vorsehung als zentrale Vorstellung im Mittelalter
Irritierende, spektakuläre oder katastrophale Ereignisse aus Vergangenheit oder Gegenwart wurden damals eben nicht auf die Handlungen menschlicher Gruppen und Akteure zurückgeführt, sondern auf den unerfindlichen Ratschluss Gottes und die verborgene göttliche Vorsehung aller Ereignisse (divina providentia). Damit fehlt die für moderne Verschwörungstheorien charakteristische Idee der geheimen «Verschwörer». Echte Verschwörungen gab es im Mittelalter aber wohl schon. Unerwartete Niederlagen, der Tod eines Herrschers, Seuchen und Naturkatastrophen waren für die Geschichtsschreiber im frühen und hohen Mittelalter jedoch in erster Linie das Werk überirdischer Mächte.
Wann aber begann dieses Erklärungsmuster seine Überzeugungskraft zu verlieren, so dass Raum für alternative Begründungen entstand? Anzeichen und Beispiele dafür gibt es aus dem späteren Mittelalter.
So taucht beispielsweise im frühen 14. Jahrhundert in bestimmten Kontexten die Behauptung auf, dass es verborgene menschliche Gruppen oder Akteure gebe, die an dem Eintreten eines solchen Ereignisses interessiert waren, die konspiriert hatten, um es herbeizuführen, und dabei geheime politische Pläne verfolgten.
Lepra-Kranke unter Verdacht
Die Ausbreitung der Lepra-Krankheit im Europa des späten Mittelalters bot in den Jahren um 1320 Anlass zu einer solchen frühen Form der Verschwörungstheorie, die sich hauptsächlich in Frankreich zügig verbreitete. eine ganze Reihe von Schriftstücken dieser Jahre berichtet von einer Verschwörung, die durch die gezielte Verbreitung von Lepra nicht nur die Vernichtung und Unterjochung der Bevölkerung verfolgte, sondern darüber hinaus den politischen Plan, die Herrschaft im Königreich Frankreich zu übernehmen. Die Agenten dieser Verschwörung jedoch waren die Leprakranken selbst, die Aussätzigen, die die Ausbreitung der Krankheit absichtlich vorantrieben, um damit die Gesunden zu schwächen.
Für ihre politischen Umsturzpläne aber, dies ist ein entscheidender Aspekt, hätten sie sich darüber hinaus mit islamischen Herrschern gegen die Christen verbündet. Im Bündnis mit dem Sultan von Babylon und dem König von Granada, so geht die Erzählung, wollten sie die Herrschaft an sich reißen. In welcher Gegend genau dieses Gerücht zuerst aufkam und wer ein Interesse an seiner Verbreitung hatte, kann heute nicht mehr geklärt werden. Bedeutsam ist dabei auch, dass unmittelbar im Anschluss daran schon gefälschte Briefe der muslimischen Könige zirkulierten, in denen sie die Lepra-Kranken aufforderten, die Vergiftung der Christen zu beschleunigen. Offenbar hatten also manche Kreise ein Interesse daran, die Gerüchte weiter zu schüren, indem man derartige Nachrichten fabrizierte und in Umlauf brachte.
Ebenfalls zu Beginn des 14. Jahrhunderts tauchten beim spektakulären Prozess gegen den Templerorden abenteuerlicher Verschwörungsszenarien auf, die darauf abzielten, verunsichernde Ereignisse von großer gesellschaftlicher Relevanz auf die geheimen Pläne und Handlungen verborgener Gruppen oder Akteure zurückzuführen.
Grundlegend für diese Entwicklung dürfte die Herausbildung einer «pragmatischen Schriftlichkeit» sein, die sich insbesondere seit dem 13. Jahrhundert in Europa verbreitet hatte. Die «Schriftlichkeit» verbreitete sich zunehmend im Alltag vieler Menschen, zum Beispiel durch die Etablierung von Verwaltungsschrifttum in der Administration von Städten und Höfen, von Rechtsdokumenten wie Testamenten, Verträgen und Gerichtsakten, von Geschäftsschrifttum wie Rechnungsbüchern sowie einer massiv intensivierten Briefkommunikation.
Die zunehmende Verschriftlichung zuvor schriftloser Lebensbereiche war Teil eines allgemeinen Medienwandels, der gesellschaftliche Bereiche überformte, die zuvor durch Mündlichkeit geprägt waren. Das ermöglichte auch neuartige mediale Praktiken der Meinungsbeeinflussung.
Propaganda gegen den Templerorden
So fügte sich beispielsweise die Kampagne des französischen Königs gegen den Templerorden, mit ihrer planmässigen Verbreitung von Schriften, also einer Kommunikation unter Abwesenden, in diesen allgemeinen Medienwandel. Der propagandistische Einsatz von Schriftdokumenten, durch den Königshof war in dieser Dimension eine neuartige ‚Aneignung‘ schriftlicher Kommunikation. Diese bisher ungewohnten Kommunikationsformen waren geeignet, ein hohes Mass an überzeugender Einsicht zu produzieren, erzeugten jedoch gleichzeitig auch Misstrauen. So zeigten viele Zeitgenossen auch Skepsis gegenüber möglichen verborgenen Absichten des Königs, dem nachgesagt wurde, dass es ihm um das Vermögen der Templer geht. Es entsteht eine Haltung des Verdachts gegen solche Schriften, die von einer verborgenen Agenda hinter der vordergründigen Realität ausgeht.
Die Annahme, dass vor allem die Zeiten medialer Wandlungsprozesse die Entstehung von Verschwörungstheorien begünstigen, indem sie eine Skepsis gegenüber den (Schrift-)Zeichen stimulieren, kann hier zu mindestens teilweise als Erklärung dienen. Während des Mittelalters fand zwar keine Medienrevolution statt, die (wie im Falle von Buchdruck oder Digitalisierung) mit der Etablierung vollständig neuer Medientechnologien verbunden war. Dennoch lässt sich argumentieren, dass im hoch- und spätmittelalterlichen Europa gleichwohl der beschriebene Medienwandel stattfand, der mit dem Aufkommen neuer kommunikativer Praktiken und medialer Formen einherging.
Pest-Ausbruch im Mittelalter: Juden unter Verdacht
Im Jahr 1374 brach in Europa die Pest aus und führte innerhalb kurzer Zeit zu einem Massensterben, dem rund ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer fiel. Das Bedürfnis nach einer Erklärung für diese Katastrophe war gross.
Wie schon in früheren Jahrhunderten verbreitete sich schnell die Ansicht, die Pest sei eine Strafe Gottes für die Sünden der Menschen. Ausgehend von diesen vermuteten Hintergründen gestalteten sich die Reaktionen vieler Zeitgenossen. Die Chronisten jener Zeit beschreiben neue religiöse Gruppierungen, die in spektakulären Bussprozessionen mit Gesängen und Selbstgeisselungen umherzogen. Diese Bilder der «Geissler» haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt und die moderne Mittelalter-Rezeption nachhaltig geprägt. Die Erklärung des grossen Sterbens als göttliche Strafe konnte jedoch in der Mitte des 14. Jahrhunderts längst nicht mehr durchgängig überzeugen. Nicht wenige Zeitgenossen machten sich auf die Suche nach konkreteren, ‘diesseitigen’ Erklärungen. Dabei rückte unweigerlich die Frage ins Zentrum, ob es nicht bestimmte Akteure in der Welt geben könnte, die ein Interesse an dem eingetretenen Unglück gehabt hatten und folglich hinter den katastrophalen Vorgängen steckten. Die folgenreichste Verschwörungserzählung, die sich daraus entwickelte, beschuldigte die Juden, mittels Brunnenvergiftung die Pest zu verbreiten. Diese Brunnenvergiftungs-Legende hat seit dem Mittelalter zu vielen Pogromen an Juden geführt.
Dabei handelte es sich jedoch nicht nur um spontane Gewaltausbrüche gegen naheliegende Sündenböcke. In den Quellen der Jahre 1348 bis 1350 zeigt sich eine hochgradig ausgebildete Verschwörungstheorie, die ein ‘Wissen’ über die Hintergründe behauptet und ein planmässiges Vorgehen gegen die Juden als dringlich darstellt. In Briefwechseln zwischen städtischen Räten und in Chroniken der Zeit bereitete sich eine Verschwörungstheorie aus, die davon ausgeht, dass die Juden von langer Hand die Vergiftung der gesamten Christenheit geplant hätten.
Wie viele Menschen damals an diese Verschwörungstheorie tatsächlich glaubten, lässt sich nicht feststellen. Doch setzte sich diese Überzeugung in weiten Teilen der Bevölkerung durch. Allerdings traf sie keinesfalls auf ungeteilte Zustimmung. Insbesondere Universitätsgelehrte und Vertreter der Amtskirche widersprachen entschieden und wiesen die angeblichen Brunnenvergiftungen als Falschmeldungen zurück. Papst Clemens VI. beispielsweise sah sich zu einer offiziellen Stellungnahme veranlasst. In einer schriftlichen Erklärung liess er verbreiten, dass diese Vorwürfe nicht stimmen könnten, weil auch Juden an der Pest sterbe würden und die Krankheit auch in Regionen ausgebrochen sei, in denen gar keine Juden lebten. Die Pest könne daher nur eine Strafe Gottes sein.
Die Argumente des Papstes weckten zwar Zweifel an den vermeintlichen ‘Fakten’ bezüglich der Brunnenvergiftungen. Sie konnten aber die Ausbreitung der Verschwörungstheorie nicht verhindern. Noch im 15. Jahrhundert gibt es Behauptungen, der Papst sei damals von den Juden für sein Engagement gekauft worden. Eine Verschwörungstheorie wird hier also mit einer weiteren Verschwörungstheorie gestützt und gegen Einwände verteidigt (nicht unüblich, dieses Vorgehen).
Die Konkurrenz verschiedenartiger, vielfältiger Deutungen führte rund um die Pest bei vielen Menschen zu Verunsicherungen.
Die Theorie einer jüdischen Verschwörung zur Brunnenvergiftung konnte sich im 14. Jahrhundert nicht zuletzt deshalb erfolgreich verbreiten, weil sie an bereits etablierte judenfeindliche Stereotype anschloss. Seit dem hohen Mittelalter hatten sich in Europa antijüdische Vorurteile verbreitet, die den Juden bösartige Aktivitäten zum Schaden der Christenheit unterstellten (z. B. Hostienschändung, Ritualmorde). Als dann im 14. Jahrhundert die grosse Verschwörungstheorie von der jüdischen Brunnenvergiftung fabriziert wurde, konnte sie an ein bereits vorliegendes ‘Wissen’ um die Bösartigkeit der Juden anknüpfen.
Das Aufkommen dieser Theorie der jüdischen Verschwörung im Mittelalter wurde begünstigt durch gesellschaftliche Veränderungen und neuartige soziokulturelle Bedingungen, die gute Bedingungen schufen für die Verbreitung von konspirativem Denken.
Zu diesen neuartigen Bedingungen gehörte eine intensivierte Skepsis gegenüber dem Verhältnis von Schein und Sein in der sozialen Wirklichkeit. Dieses verstärkte Misstrauen und der Verdacht auf eine hinter dem äusseren Schein liegende wahre Realität zeigten sich bereits seit dem 13. Jahrhundert. Die oben beschriebene «pragmatische Schriftlichkeit» war begleitet von Misstrauen darüber, ob hinter den Schriftzeichen in Dokumenten wirklich das lag, was sie nach aussen vorgaben. Der Verdacht stand im Raum, dass sie sich auch ‘propagandistisch’ für eigene Zwecke einspannen liessen.
Ein derartiger skeptischer Habitus begünstigte die Akzeptanz von Erklärungen, die verunsichernde Vorgänge und Ereignisse in der sozialen Welt nicht (nur) dem Willen Gottes, sondern verschwörerischem Handeln und den versteckten Absichten und Plänen böser Mächte zuschrieben.
Unterschiede zu modernen Verschwörungstheorien
Wie schon erwähnt, stehen in modernen Verschwörungstheorien nicht göttliche, sondern menschliche Akteure im Hintergrund. Der Amerikanist Michael Butter, der von einer engeren Definition von Verschwörungstheorien ausgeht, sieht noch weitere Unterschiede, die ihn den Schluss ziehen lassen, dass es im Mittelalter keine Verschwörungstheorien im engeren Sinn gegeben hat. Es brauche für konspirationistische Verdächtigungen bestimmte Bedingungen, die nicht immer und überall gegeben seien:
«Verschwörungstheorien beruhen erstens auf bestimmten Annahmen über menschliche Handlungsfähigkeit und daher auf einem bestimmten Verständnis des Subjekts. Und da sie sich um Komplotte drehen, die in der Vergangenheit begonnen haben, in der Gegenwart spürbar sind und in der Zukunft vollendet werden sollen, setzen sie auch ein spezifisches Verständnis von Zeitlichkeit und historischer Entwicklung voraus. Zweitens benötigen Verschwörungstheorien eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit, in der sie als Text oder Video zirkulieren können. In rein privater Kommunikation können sie ihre Wirkung nicht entfalten. Entsprechend ist die Entstehung und Veränderung von Verschwörungstheorien drittens immer auch an bestimmte mediale Bedingungen geknüpft….
Anders als oft behauptet, existierten im Mittelalter keine Verschwörungstheorien im engeren Sinne, weil es weder eine Öffentlichkeit für die Anschuldigungen noch das für solche Theorien nötige Verständnis von Zeitlichkeit gab. Es kam zwar immer wieder zu Verdächtigungen gegen Juden und andere Gruppen und insofern zu Versatzstücken von Verschwörungstheorien, doch in den allermeisten Fällen ging es darum, bereits geschehene Gewalt zu rechtfertigen, indem den Opfern eine Komplott unterstellt wurde, und nicht darum, eine sich entfaltende Intrige zu enthüllen. Die für Verschwörungstheorien charakteristische Beweisführung findet sich gar nicht; sie kehrte – zusammen mit typischeren Verschwörungsszenarien – erst in der Frühen Neuzeit zurück, wo die Erfindung des Buchdrucks zur Herausbildung konspirationistischer Anschuldigungen moderner Prägung beitrug.»
Umbrüche in der Informations- und Kommunikationstechnologie wie die Erfindung des Buchdrucks in der Frühen Neuzeit oder die Digitalisierung in der Gegenwart scheinen die Verbreitung von Verschwörungstheorien stark zu begünstigen. Gesellschaften ebenso wie einzelne Individuen brauchen offenbar Zeit, bis sie mit neuen Entwicklungen wie den «sozialen Medien» adäquat umgehen können.
Quellen:
☛ Verschwörungstheorien und Fake News vor der Aufklärung?
Zur Formierung von Zeichenskepsis, Heucheleidiskurs und Konspirationismus im europäischen Spätmittelalter, von Marcel Bubert (Münster)
(PhiN-Beiheft 25/2021: 77, http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft25/b25t04.pdf)
☛ «Nichts ist, wie es scheint – Über Verschwörungstheorien», von Michael Butter, edition suhrkamp, 2018.
Anmerkungen:
In diesem Text ist viel die Rede von Zweifel, Misstrauen und Verdacht als Grundlage für die Entstehung von Verschwörungstheorien im späteren Mittelalter. Diese Phänomene bilden auch heute noch eine wichtige Basis für moderne Verschwörungstheorien. Zugleich sind Zweifel und Misstrauen nötige Elemente für das Funktionieren von Demokratie und Wissenschaft. Deshalb ist es wichtig zu unterscheiden zwischen notwendigem, gesundem Zweifel und gesundem Misstrauen einerseits – und dem toxischen Zweifel und toxischem Misstrauen der Verschwörungsgläubigen andererseits.
Siehe dazu: