Peter Pomerantsev weist darauf hin, dass Verschwörungstheorien zunehmend in die Stelle von Ideologien treten. Und Ivan Krastev hat geschrieben, dass eine Politik auf der Basis von Verschwörungstheorien gefährlicher ist als eine Politik, die durch Ideologien motiviert wird. Um zu verstehen, welche Folgen das haben kann, sollte zuerst geklärt werden, was Ideologien sind.
Was sind Ideologien?
Die Politikwissenschaftlerin Barbara Zehnpfennig von der Universität Passau verwendet den Begriff «Ideologie» synonym mit dem Begriff der «Weltanschauung» und erklärt:
«Gemeint sind also Theorien, die einen ganz umfassenden Erklärungsanspruch haben. Sie wollen das Gesamte der Wirklichkeit erklären, was es ist, wie es geworden ist und was es künftig sein wird oder sein soll…..
Für alles also bieten Ideologien eine einheitliche Deutung an, für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft…..»
Weltanschauungen wie der Nationalsozialismus, der Marxismus oder der Islamismus seien ein hybrides Unternehmen:
«Sie glauben tatsächlich verstanden zu haben, was die Welt ausmacht, was die Welt im Innersten zusammenhält, weil sie den einen Schlüssel gefunden haben, mit dem sich alles aufschliessen lässt. Das ist wie das Sesam-öffne-dich, auf einmal liegt alles klar vor Augen. Die ganze Welt wird erkennbar, wie sie zusammenhängt. So sieht man auf einmal dass die ganze Wirklichkeit Ausdruck von Klassenkämpfen oder von Rassenkämpfen, oder vom Kampf der Gläubigen gegen die Ungläubigen ist. Es bleibt kein unerklärbarer Rest. Die uns normalerweise erdrückende Komplexität der Welt fällt von uns ab und alles wird ganz einfach. Man erkennt sofort die Nähe des ideologischen Denkens zu Verschwörungstheorien.»
Gemeinsamkeiten zwischen Ideologien und Verschwörungstheorien
Zuerst sollte festgehalten werden, dass es zwischen Verschwörungstheorien und Ideologien einige Gemeinsamkeiten gibt. Barbara Zehnpfennig hat im Vortrag auf die Nähe des ideologischen Denkens zu Verschwörungstheorien hingewiesen. Gemeinsam sei beiden der Glaube, den großen Zusammenhang erkannt zu haben, der den anderen Menschen verborgen geblieben ist. Dabei lassen sich beide nicht durch Fakten beeinflussen.
Ideologien und Verschwörungstheorien treffen sich aber oft auch in einem starken Gut-Böse-Dualismus. Beide sind für Ambivalenzen und Ambiguität nicht sehr offen. Ideologen und Verschwörungstheoretiker treten zudem beide häufig als Heilsbringer auf, weil sie davon überzeugt sind, die Übel der Welt erkannt zu haben. Daraus entsteht nicht selten ein Erlösungswille – die Menschheit soll vom Übel befreit werden – und eine starke Neigung zu Missionarismus.
Bei den Ideologien lässt sich das gut erkennen: Der Nationalsozialismus wollte die Menschheit vom Übel des Judentums befreien, der Marxismus vom Kapitalismus, der Islamismus von den Ungläubigen.
Und die Verschwörungstheorien glauben, die Welt von den Verschwörern retten und erlösen zu müssen. Das sind dann oft auch die Juden, zum Beispiel in den «Protokollen der Weisen von Zion», oder Einzelpersonen wie George Soros, Bill Gates oder Kurt Schwab, oder eine liberale Elite, die angeblich Kinder gefangen hält und foltert, um aus ihrem Blut das angebliche Verjüngungsmittel Adrenochrom zu gewinnen (QAnon).
Verschwörungstheorien statt Ideologien
Der bulgarische Politologe Ivan Krastev beschreibt in «Le Monde diplomatique» eine Entwicklung, die drastische Folgen haben kann:
«Anstelle von Ideologien bestimmen heute Verschwörungstheorien im Kern die Politik. Sie stiften die neuen postideologischen Identitäten, sie bringen Demonstranten auf die Straßen, sie verbinden Politiker mit ihrer Gefolgschaft. Und sie entscheiden über den Ausgang von Wahlen.»
Und der britische Fernsehproduzent und Journalist Peter Pomerantsev sagt im Interview mit der russischen «Novaya Gazeta»:
«Überall treten Verschwörungstheorien an die Stelle von Ideologien. Überall wird versucht, die Menschen nicht mehr von einer höheren Idee zu überzeugen, sondern sie zu täuschen und in die Irre zu führen.»
Das lässt sich gilt illustrieren am Beispiel von Ex-Präsident Donald Trump. Ideologisch nicht sehr gefestigt – sein Programm ist hauptsächlich sein Ego – bewirtschaftet er Verschwörungstheorien virtuos und wohl intuitiv im Rahmen seiner Machterhaltungsstrategie.
Welche Folgen hat das?
Ivan Krastev beschreibt in «Le Monde diplomatique», welche Veränderung es für die Politik mit sich bringt, wenn ideologische Haltungen von verschwörungstheoretischem Denken abgelöst werden. Eine Politik, die mit Verschwörungstheorien hantiert, hält Krastev für gefährlicher als eine ideologisch motivierte. Den Kern des Problems schildert der Politologe so:
«Verschwörungstheorien nehmen den Menschen Macht weg. In einer von solchen Vorstellungen geprägten Welt können sich Politiker aus der Verantwortung stehlen, indem sie die Schuld an ihren falschen Entscheidungen irgendwelchen unsichtbaren, angeblich übermächtigen Feinden zuschieben, die sich gegen sie verschworen haben…..
Dass eine Politik, die mit Verschwörungstheorien hantiert, gefährlicher ist als eine ideologisch motivierte, hat einen weiteren Grund: Solche Theorien bieten zwar schillernde Erklärungen für das, was geschehen ist und wer Schuld daran hat, aber ihnen fehlt jede Zukunftsvision, jedes Konzept für eine Welt, in der wir leben wollen.»
Ideologien bringen laut Ivan Krastev Fanatiker hervor, aber auch Dissidenten:
«In Osteuropa haben viele Dissidenten einst an den Kommunismus geglaubt – und sich von der herrschenden Ideologie abgewandt, als diese ihre utopischen Versprechen von Gleichheit und Gerechtigkeit nicht einlösen konnte. Sie konnten ihrer Ideologie treu bleiben und zugleich die Partei oder die politische Führung kritisieren.»
Im Gegensatz dazu produzieren Verschwörungstheorien laut Krastev «keine Dissidenten, sondern Zombies, die nicht willens – oder zu bequem – sind, ihre politische Führung infrage zu stellen.»
Es verändere den Charakter der politischen Polarisierung, wenn an die Stelle einer ideologischen Politik ein politisches Zugehörigkeitsgefühl tritt, das sich an Verschwörungstheorien festmacht. Wer seine Identität auf Verschwörungstheorien aufbaue, ersticke jede Selbstkritik. Im Rahmen einer Ideologie lasse sich das politische Führungspersonal leichter zur Rechenschaft ziehen als im Nebel von Verschwörungsfantasien.
Quellen:
Der Hass auf die Welt und den Menschen
(Vortrag von Barbara Zehnpfennig, ORF)
„Überall treten Verschwörungstheorien an die Stelle von Ideologien“ (Dekoder)
(Interview mit Peter Pomeratsev)
Aus Le Monde diplomatique: Der paranoide Bürger (TAZ)
(Interview mit Ivan Krastev)
Anmerkungen:
☛ Barbara Zehnpfennig spricht in ihrem Vortrag das Thema Komplexität und Komplexitätsreduktion an. Ideologien und Verschwörungstheorien haben auch gemeinsam, dass beide der Komplexitätsreduktion dienen können. Siehe dazu:
Komplexitätsreduktion durch Verschwörungstheorien
☛ Es steht ausser Frage, dass auch eine von Ideologien getriebene Politik zu schweren Verwerfungen führen kann. Sowohl Nationalsozialismus wie auch Stalinismus setzen stark auf Ideologien, aber eben auch auf Verschwörungstheorien.