In Rumänien steht das Gesundheitssystem gerade am Rande seines Zusammenbruchs, da gegenwärtig zahlreiche Corona-Patienten ins Spital kommen, von denen viele schwere Verläufe durchmachen. Dass diese katastrophale Situation stark durch Verschwörungstheorien mitausgelöst ist, zeigt ein Bericht des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR).
Der Bukarester Politikexperte Cristian Pirvulescu hält die Situation in Rumänien gerade für schlimmer als in Italien zu Beginn der Pandemie – und dass, obwohl es inzwischen Impfstoffe gibt.
Das Land zählt gegenwärtig die meisten Corona-Toten global, bezogen auf seine Bevölkerungszahl. Allein diese Woche starben täglich über 400 Menschen an den Folgen einer Corona-Erkrankung. Alle staatlichen Spitäler sind komplett überlastet, jeden Tag müssen sie Hunderte neuer Corona-Patienten aufnehmen. Mediziner berichten von teils „apokalyptischen Szenen“, Patienten würden sich gegenseitig wegschubsen, um an die wenigen Beatmungsgeräte zu gelangen. Es mangelt an Geräten, an Intensivbetten und insbesondere an Personal. Längst müssen die Mediziner eine Triage vornehmen und angesichts der begrenzten Zahl der Intensivbetten entscheiden, wer noch gerettet werden kann und wer nicht.
Rumänien zählt mit einer Impfquote von etwa 30 Prozent zu den Schlusslichtern in der EU (Stand 22. Oktober 2021). Ausreichend Impfstoff – von Biontech, über Moderna, Astrazeneca und Johnson & Johnson – hatte es im Verlauf des Jahres im Land gegeben. Aber prominente Verschwörungstheoretiker und orthodoxe Priester verbreiteten große Zweifel an den westlichen Impfstoffen.
Zahlreiche rumänische Intensivmediziner sehen in der tiefen Impfquote den Hauptgrund für das desaströse Ausmaß der vierten Corona-Welle im Land. Verschärfend kommt hinzu, dass Rumänien in seiner schwersten Gesundheitskrise derzeit ohne Regierung dasteht.
Im Interview mit dem MDR erklärt der Experte Cristian Pirvulescu, Dekan der Politikfakultät der SNSPA in Bukarest, weshalb die Impfquote in Rumänien so tief ist.
Misstrauen und Verschwörungstheorien begünstigen tiefe Impfquote in Rumänien
Die Mehrheit der Bevölkerung habe die staatliche Impfkampagne mit Argwohn betrachtet, sagt Pirvulescu. Das Vertrauen in alle politischen Parteien sei in Rumänien äußerst gering. Den Politikern werde vorgeworfen, den Staat als Instrument für die eigenen Interessen zu benutzen, um Machtpositionen zu sichern, um sich zu bereichern.
Dieses Negativ-Image der Politiker setze einen Prozess in Gang, der eine Gesellschaft auf einmal unregierbar machen könnte: «Genau das erleben wir gerade in Rumänien. Wenn 70 Prozent der Bevölkerung die Corona-Schutzimpfung demonstrativ ablehnen und sich lieber auf Verschwörungstheorien berufen, dann hat man es mit einem Versagen des Staates zu tun.»
Die Lage wird nicht nur dadurch erschwert, dass Rumänien derzeit gerade keine Regierung hat. Auch das Parlament trägt zuwenig zur Bewältigung der Krise bei, erklärt Pirvulescu:
«Es gibt in den Reihen der beiden größten Parteien, der regierenden liberalen PNL und der oppositionellen sozialdemokratischen PSD, viele Impfgegner. Zudem haben sie Angst, Wählerstimmen an die rechtspopulistische AUR-Partei zu verlieren, die in den vergangenen Monaten gerade bei den Impfgegnern enorm punkten konnte.»
Rumänien brauche nicht irgendeine Regierung, sondern eine, die das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen kann: «Andernfalls schlittern wir in eine noch gravierendere Krise.»
Im Interview wird Cristian Pirvulescu auch gefragt, weshalb Verschwörungstheorien in Rumänien besonders viel Zuspruch haben. Antwort:
«Fast 70 Prozent der Rumänen glauben Umfragen zufolge an den Teufel, der Verschwörungen anzettelt. Die Vorstellung, dass es eine teuflische Konspiration gegen uns gibt, die die Welt kontrollieren will, passt also absolut ins mentale Universum vieler Rumänen. Die Schulbildung hat hier nur wenig Einfluss. Im Gegenteil, Religion spielt in der Schule eine viel stärkere Rolle als die Wissenschaft. Im Religionsschulbuch für die erste Klasse wird Kindern erklärt, dass sie nicht artig waren, wenn sie krank werden und der Herrgott sie auf diese Weise bestraft. Eine solche Erziehung macht schon Kinder für Verschwörungstheorien anfällig.»
Quelle:
Pandemie: Warum in Rumänien gerade so viele Menschen an Covid-19 sterben (MDR)
Ausserdem:
☛ Misstrauen macht anfällig für Verschwörungstheorien. Und die Menschen in Rumänien haben ziemlich viele realen Gründe für Misstrauen gegenüber ihren Politikerinnen und Politikern.
Im Kontext von Verschwörungstheorien ist es allerdings entscheidend, zwischen gesundem Misstrauen und toxischem Misstrauen zu differenzieren. Siehe dazu:
Über toxische Zweifel und toxisches Misstrauen
☛ Hier geht’s zum Beitrag über Corona-Verschwörungstheorien in der Enzklopädie: