Minderheiten sind nicht selten Ziel von Verschwörungstheorien. Ein historisch herausragendes Beispiel dafür sind die antisemitischen Verschwörungstheorien. Siehe dazu:
Antisemitismus und Verschwörungstheorien
Minderheiten sind aber auch selbst anfällig dafür, Verschwörungstheorien zu übernehmen. Woher kommt das?
Verschwörungstheorien erklären das – tatsächliche oder vermeintliche – Unglück der Welt durch Erzählungen über Akteure mit bösen Absichten. Dabei vermitteln sie denen, die daran glauben, ein Gefühl der Kontrolle über eine Umwelt, die sonst dem Zufall überlassen wäre.
Deshalb zeigt sich die Verschwörungstheorie als Form der unbewussten geistigen Strategie zur Bekämpfung von Ängsten speziell häufig bei sozialen Gruppen, die sich aus einem objektiven oder vermeintlichen Grund von Prekarisierung, Enteignung oder Herabstufung betroffen fühlen oder sich davor fürchten.
Verschwörungstheorien liefern Erklärungen für prekäre Situationen
Es ist deshalb nicht überraschend, dass Rassismusopfer oder im weiteren Sinn Angehörige von Minderheiten oder diskriminierten Gruppen ebenfalls Verschwörungstheorien übernehmen können, um ihren Status zu erklären. Sie können darin ein Erklärungsmuster finden, das ihrer Situation einen Sinn gibt und eine eindeutige Begründung liefert für die sozialen Ungerechtigkeiten, deren Opfer sie sind.
Verschwörungstheorien erklären in diesem Kontext angeblich die Absichten und Methoden der Macht oder der Mehrheitsgruppen.
Das zeigt sich zum Beispiel bei den Verschwörungstheorien, die seit Beginn der AIDS-Epidemie zirkulieren.
Verschiedene Verschwörungstheorien unterstellen hier, dass das AIDS-Virus von der Regierung der Vereinigten Staaten hergestellt worden sei und dass die Mitglieder der afro-amerikanischen Gemeinschaft willentlich damit infiziert wurden, um sie zu schwächen oder sogar auszumerzen.
Eine Variante dieser Verschwörungstheorie wurde auch von der muslimischen afro-amerikanischen Organisation Nation of Islam vertreten. Andere Verschwörungstheorien unterstellen, dass die Gesundheitsdienste der Vereinigten Staaten zusammen mit weissen Suprematisten die homosexuelle Gemeinschaft bewusst dem AIDS-Virus ausgesetzt hätten.
Eine interessante ethnografische Studie von Mazzocchetti (2012) zeigte auf, wie sich stigmatisierte Minderheiten in den benachteiligten Quartieren von Brüssel mit Verschwörungstheorien behelfen, um ihre Lage zu verstehen. Diese Untersuchung konnte nachweisen, dass in diesen Quartieren junge Eingewanderte und Nachkommen von Eingewanderten aus Marokko oder Subsahara-Afrika stark Verschwörungstheorien anhängen, wonach Medien, Politik und Ordnungskräfte westlicher Länder kooperieren, um die eingewanderte und muslimische Bevölkerung als Quelle sozialer Unruhen darzustellen und die öffentliche Aufmerksamkeit von den tatsächlichen bösen Akteuren abzulenken – den «Mächtigen» und der «globalen Mafia». So seien zum Beispiel die Attentate vom 11. September 2001 in den USA (9/11) von der US-amerikanischen Regierung selber organisiert und Islamisten zugeschrieben worden, um die muslimischen Gemeinschaften im Westen zu stigmatisieren.
Junge Eingewanderte und Nachkommen von Eingewanderten geben laut der Studie durch die Übernahme solcher Verschwörungstheorien der Vergangenheit (dem Schweigen rund um die Kolonialisierungs- und Migrationsgeschichte) und ihren Erfahrungen mit der gegenwärtigen Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierungen einen Sinn. Diese Beschreibung der Welt durch Verschwörungstheorien sei auch eine Art und Weise, die Kontrolle über die Ereignisse zu übernehmen, indem man sie kohärent und akzeptabel macht, um damit die Opferrolle zu verlassen und zu einem bedeutenden Akteur zu werden. Es zeigt sich dabei, dass die Verschwörungsideologie oft im Gefühl wurzelt, zu einer stigmatisierten, bedrohten Minderheit zu gehören oder Opfer sozialer Ungerechtigkeit zu sein. In manchen Fällen entspricht dieses Gefühl einer objektiven Realität, in anderen entspringt es einer Angst, die auch dann ihre Wirkung tut, wenn sie nicht berechtigt ist.
Verschwörungstheorien helfen Minderheiten nicht
Verschwörungstheorien sind zwar über die Auslösung und Bewirtschaftung von Empörung zwar in der Lage, Menschen zu mobilisieren und zusammenbringen. Sie sind jedoch politische Sackgassen, selbst wenn das ursprüngliche Gefühl der Ungerechtigkeit legitim ist. Die Perspektive der Verschwörungsideologie verhindert nämlich eine adäquate Beurteilung der Situation und damit auch die effektive Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten. Die Verschwörungsideologie ist deshalb immer eine Falle und nie ein Instrument der Emanzipation.
Quelle:
Verschwörungsideologie als gefährliches Mittel der Mobilisierung, Beitrag von Laurent Cordonier & Sebastian Dieguez; in:
TANGRAM Nr. 45, Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR)
Ausserdem:
☛ Die Verschwörungstheorie, dass das AIDS-Virus von der Regierung der Vereinigten Staaten hergestellt worden sei, geht wesentlich auf eine Desinformationskampagne zurück, die vom sowjetischen Geheimdienst KGB und vom DDR-Geheimdienst Stasi lanciert wurde. Das geht unter anderem aus veröffentlichte Stasi-Unterlagen und auf Aussagen ehemaliger KGB- und Stasi-Offiziere hervor.
Siehe dazu:
Das Ministerium für Staatssicherheit und die AIDS-Desinformationskampagne des KGB (Stasi-Unterlagen-Archiv)
☛ Die prekäre Lage von Minderheiten eignet sich dazu, von Agitatoren zu politischen Zwecken ausgenutzt zu werden. Dazu hat der deutsche Literatursoziologe Leo Löwenthal (1900 – 1993) in seinem Buch «Falsche Propheten – Studien zum Autoritarismus» lesenswerte Analysen veröffentlicht.
Zitat:
«Soziale Malaise kann mit einer Hautkrankheit verglichen werden. Der daran leidende Patient hat das instinktive Bedürfnis, sich zu kratzen. Folgt er dem Rat eines erfahrenen Arztes, wird er diesem Bedürfnis nicht nachgeben und statt dessen versuchen, die Ursache des Juckreizes durch ein Heilmittel zu beseitigen. Gibt er jedoch seinem instinktiven Kratzbedürfnis nach, wird der Juckreiz sich nur steigern. Dieser irrationale Akt der Selbstverstümmelung wird ihm zwar eine gewisse Erleichterung verschaffen, verstärkt aber gleichzeitig sein Bedürfnis zu kratzen und verhindert eine erfolgreiche Heilung seiner Krankheit. Der Agitator rät zum Kratzen.»
Quelle: Leo Löwenthal, «Falsche Propheten – Studien zum Autoritarismus», Suhrkamp 2017.
☛ Siehe auch:
Ablenkung durch Verschwörungstheorien statt Lösung realer Probleme