Komplexe, unübersichtliche Situationen zeichnen sich aus durch Ambiguität (Mehrdeutigkeit). Damit umzugehen ist nicht einfach. Verschwörungstheorien bieten hier Abhilfe durch Komplexitätsreduktion. Aber konstruktiver wäre es, mit widersprüchlichen, mehrdeutigen Situationen umgehen zu lernen. Diese Fähigkeit heisst Ambiguitätstoleranz.
Katharina Bracher hat zu diesem Thema im Magazin der «NZZ am Sonntag» einen informativen Beitrag publiziert. Zitat:
«Menschen haben von Natur aus eine Abneigung gegen Unklarheit. Sie vermeiden mehrdeutige, vage und widersprüchliche Informationen, wie sie die gegenwärtige Situation mit sich bringt. Die These geht zurück auf den deutschen Islamwissenschafter Thomas Bauer. Er nennt diese Eigenschaft «Ambiguitäts-Intoleranz». Gemeint ist die Intoleranz gegenüber Widersprüchen, die das Leben mit sich bringt. In seinem Essay ‘Die Vereindeutigung der Welt’ beschreibt er diese Entwicklung als menschliche Mentalitätsgeschichte. Weltreligionen etwa hätten früher weit mehr Ambiguität zugelassen. Als Beispiel nennt er die gleichgeschlechtliche Liebe, die im Islam einst toleriert worden sei.
Unsere Zeit hingegen sei eine der geringen Ambiguitätstoleranz. In vielen Lebensbereichen, nicht nur in der Religion, erscheine das als attraktiv, was Erlösung von der ‘unhintergehbaren Ambiguität der Welt’ verspreche. Vielfalt, Komplexität und Pluralität würden häufig nicht mehr als Bereicherung empfunden. Hinzu komme der Wahn, jedes und alles bis aufs Letzte erklären zu müssen. Bauer beschreibt es als eine eigentliche Wahrheitsobsession: ‘Viele Menschen, denen immer alles erklärt wird und denen eine Welt ohne Geheimnisse, ohne Unerklärbares und Überkomplexes vorgegaukelt wird, glauben schliesslich selbst, alles zu verstehen.’ Deshalb habe man heute immer und zu allem eine Meinung. Eine Meinung zu haben, werde geradezu vorausgesetzt.»
Bauer beziehe die zeitgeistige Ambiguitäts-Intoleranz zwar nicht auf Verschwörungstheorien, aber die Anwendung sei naheliegend, schreibt Katharina Bracher.
Ambiguität gehört zur Wissenschaft
Die Wissenschaft steckt per Definition in der Ambiguität fest, erläutert Bracher:
«Zu den gesundheitlichen Auswirkungen von G5 zum Beispiel gibt es keine eindeutigen wissenschaftlichen Befunde, schlimmer noch: Vielleicht wird es die nie geben. Von dieser Unsicherheit profitieren jene, die Verschwörungstheorien propagieren.»
Ähnlich verhalte es sich mit der Pandemie:
«Die umständlichen Erklärungen von Wissenschaftern unterschiedlicher Fachgebiete sind durchsetzt von zahlreichen Fremdwörtern, die man womöglich noch nachschlagen muss. Sie tragen nicht zur Eindeutigkeit bei, nach der sich die meisten Menschen sehnen, doch das ist auch nicht die Aufgabe der Wissenschaft. Komplexe Kontextualisierung der Sachverhalte, kritische Betrachtung von inflationär verwendeten Begriffen, das Abwägen von Argument und Gegenargument: Das alles ist aufwendig und nervenaufreibend. Verschwörungstheorien machen die anstrengende Mehrdeutigkeit des Lebens erträglicher. Damit kommen wir allerdings der absoluten Wahrheit, nach der wir angeblich alle streben, keinen Schritt näher.»
Quelle: NZZ am Sonntag, Magazin, Nr. 18 / 2020
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Demokratie braucht Ambiguitätstoleranz – Verschwörungstheorien meiden sie