In Demokratien wird normalerweise durch Wahlen der Mehrheitswille festgestellt. In den USA ist allerdings eine bedeutende Zahl der Menschen nicht mehr vom Wahlvorgang überzeugt. Die Verschwörungstheorie vom Wahlbetrug, seit längerem vor allem von Ex-Präsident Donald Trump lanciert, breitet sich aus. Das ist Gift für die Demokratie.
Seit Trump als US-Präsident abgewählt wurde, hält er die «Big Lie» aufrecht, die Wahl sei ihm gestohlen worden. Beweise für seine Behauptung konnte er nicht ansatzweise erbringen. Seine Klagen in dieser Angelegenheit scheiterten allesamt vor den Gerichten. Doch steter Tropfen scheint den Stein zu höhlen. Inzwischen wittern nicht nur beinharte Trump-Anhänger bei Wahlen generell Wahlbetrug durch die Gegenseite, sollte es zu einer Niederlage kommen. Auch im Lager der US-Demokraten hat sich eine grundlegende Skepsis gegenüber Wahlen eingeschlichen.
Das zeigt eine repräsentative Befragung des internationalen Marktforschungsinstituts Ipsos für die US-Nachrichtenseite „Axios“.
Auf die Frage „Sollte Ihre Partei nicht die Kontrolle über den Kongress gewinnen, wie wahrscheinlich ist es, dass Sie Wahlbetrug dafür verantwortlich machen?“ gaben 39 Prozent der Anhängerinnen und Anhänger der Republikaner die Antwort, dass dies wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich sei. Diese Zahl war für die Befrager kaum überraschend – nach zwei Jahren kontinuierlicher Behauptungen republikanischer Politiker, die Wahl 2020 sei Donald Trump „gestohlen“ worden. Aufhorchen ließ sie jedoch, dass auch im Lager der US-Demokraten bei einer Wahlniederlage ein Viertel von Wahlbetrug der Gegenseite ausgehen würde. Dies zeige, dass die „Big Lie» von 2020 lebe und sich in ein breiteres Misstrauen gegen demokratische Institutionen und Wahlen wandele. Ein Trend, der sich darüber hinaus verfestige, heißt es im Ipsos-Bericht.
Mangel an Kontakten zu Menschen anderer Ansicht fördert Verschwörungstheorie vom Wahlbetrug
Das Ipsos-Institut hatte im Hinblick auf die Zwischenwahlen Anfang November gefragt. Das ist die erste Wahl zum US-Kongress nach der Abwahl von Donald Trump und dem Sturm aufs Kapitol in Washington am 6. Januar 2021. Die Befrager bekamen dabei unter anderem den Eindruck, dass die Spaltung von Politik und Gesellschaft in den USA schon weit fortgeschritten ist. Die Befragung zeigte, dass sogar einfache Kontakte außerhalb der gleichgesinnten Gruppe immer seltener werden. Der Mangel an Verbindungen „über den Gang hinweg“ lasse großen Spielraum für Verschwörungstheorien und den Glauben an die „Big Lie“, erklärt Chris Jackson, der Vize-Präsident von Ipsos. So könnten sich Meinungen verfestigen, weil sie auf Personen projiziert würden, die man nie getroffen habe.
Die Ipsos-Umfrage zeigt jedoch auch, dass es wenig braucht, um diese Verfestigung zu erschüttern oder aufzulösen. Amerikanerinnen und Amerikaner, die im vergangenen Monat auch nur einmal eine Mahlzeit mit Menschen aus anderen politischen Zusammenhängen geteilt hatten, waren deutlich skeptischer gegenüber voreiligen Schlussfolgerungen und unbewiesenen Behauptungen bezüglich Wahlbetrug. Wer Verbindungen zu Personen mit anderen Sichtweisen habe, „folgt viel seltener irgendwelchen ‚Verrückten‘, oder unterstützt sie sogar“, sagt Chris Jackson.
Quelle:
Niederlage nur durch Wahlbetrug? Sogar ein Viertel der US-Demokraten geht davon aus
(Stern)
Anmerkungen:
☛ Die Verschwörungstheorie vom Wahlbetrug zersetzt das Vertrauen in demokratische Prozesse und greift die Demokratie in ihrem Kern an. Politiker wie Trump oder Bolsonaro, die auf diese Karte setzen, sind Antidemokraten und brauchen so viel Gegenwind wie möglich.
„Eine faire Wahl als gefälscht zu bezeichnen, ist so kriminell wie eine gefälschte Wahl fair zu nennen“ (Schach-Legende Gary Kasparow)
Siehe auch:
Wahlbetrug / Wahlmanipulation als Unterstellung und Verschwörungstheorie
☛ Die Separierung der Gesellschaft in abgeschlossene Lager, wie sie in den USA inzwischen stark ausgeprägt ist, gehört ebenfalls zu den für Demokratien gefährlichen Entwicklungen. Mehr dazu hier:
Tribalismus, digitaler: Problematik des Stammesdenken
Für uns in Europa ist es notwendig, alles Mögliche zu tun, damit diese Polarisierung bei uns nicht weiter um sich greift.