Verschwörungsgläubige beschreiben oft einen Moment des «Aufwachens», in dem sie die Wirklichkeit hinter der Fassade erkannt hätten. Heike Behnke zeigt an diesem Moment einen Unterschied zwischen Ideologiekritik und Verschwörungstheorien.
Auf «Tor online» schreibt Heike Behnke über John Carpenters Science-Fiction-Kultfilm They Live (1988). Dabei kommt die Autorin in einer interessanten Passage auf den Unterschied zwischen Ideologiekritik und Verschwörungstheorie zu sprechen:
«Hier liegt der Unterschied zwischen Ideologiekritik und Verschwörungstheorie: sie messen dem Moment des Aufwachens ganz unterschiedliche Bedeutungen bei. Wo der erwachte Verschwörungstheoretiker meint, die Wirklichkeit gefunden zu haben und seine Welt nun endlich einen Sinn ergibt, bedeutet Ideologiekritik ein Erwachen in einer vielschichtigen Realität, die noch viel komplexer ist als gedacht und wenig mit jener wirklichen und eindeutigen Welt zu tun hat, die man vielleicht zu entdecken hoffte.»
Quelle des Zitats:
Sie leben. Über Ideologiekritik und Verschwörungstheorien in der Science Fiction
Heike Behnke bringt in diesem Zitat den Unterschied zwischen Ideologiekritik und Verschwörungstheorie am «Moment des Aufwachens» auf den Punkt. Hier dazu weitere Differenzierungen:
Der Moment des Aufwachens bei Verschwörungstheoretikern
Der erwachte Verschwörungstheoretiker meint also laut Behnke, die Wirklichkeit gefunden zu haben. Die Welt ergibt für ihn endlich einen Sinn. Dieses «Aufwachen» ist in der Regel verbunden mit Komplexitätsreduktion und Kontingenzreduktion. Verschwörungstheoretiker beschreiben den Moment, als es ihnen «Wie Schuppen von den Augen fiel», oft sehr eindrücklich. Die «Aufgewachten» unterscheiden sich von diesem Moment an von den «Schlafschafen», die weiter ich der Täuschung leben. Damit geht oft eine Selbstaufwertung einher. Das Geschehen erinnert an die Erweckungserlebnisse wiedergeborener Christen. In Anlehnung an den Film «Matrix» nennen Verschwörungstheoretiker ihr «Erweckungserlebnis», ihr «Aufwachen», als «Redpilling».
Der Moment des Aufwachens mittels Ideologiekritik
Wer über Ideologiekritik anfängt, Verhältnisse zu durchschauen, wacht laut Behnke in einer vielschichtigen Realität auf, «die noch viel komplexer ist als gedacht und wenig mit jener wirklichen und eindeutigen Welt zu tun hat, die man vielleicht zu entdecken hoffte.»
Der von Heike Behnke verwendete Begriff der «Ideologiekritik» hat vor allem Bedeutung in Philosophie und Soziologie. Es geht dabei um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich geprägten, leitenden Überzeugungen, Meinungen und Werten (system of beliefs).
Mehr zum Begriff «Ideologiekritik» und zu seiner Geschichte auf Wikipedia.
In der Unterscheidung zur Verschwörungstheorie lässt sich der sperrige Begriff «Ideologiekritik» auch durch «Kritik» ersetzen.
Gibt es ein «Aufwachen» durch Kritik? Und wie unterscheidet es sich vom «Aufwachen», das die Verschwörungsgläubigen beschreiben?
Wer anfängt, kritische Fragen an die «Welt» zu stellen, bemerkt jedenfalls oft eine Veränderung. Diese Art des Aufwachens wird kaum als einzelner Moment geschildert, sondern eher als Abfolge von einzelnen Momenten. Der Vorgang beginnt oft mit dem Erkennen bestimmter Widersprüche. Wichtig dabei ist, dass die Fragen offen bestellt werden, und nicht schon die Antwort vorwegnehmen oder beinhalten. Typisch für Verschwörungsgläubige ist dagegen, dass ihre Fragen die Antworten schon suggerieren, weil sie schon überzeugt sind zu wissen, wie «der Hase läuft».
Auf offene kritische Fragen gibt es dagegen kaum je abschliessende, eindeutige Antworten. Eine typische Antwort wäre zum Beispiel «Kommt drauf an….». Es tauchen Widersprüche auf und Ambiguitäten. Siehe dazu:
Demokratie braucht Ambiguitätstoleranz – Verschwörungstheorien meiden sie
Es spricht deshalb viel dafür, dass das «Aufwachen» im «Modus der Kritik» eine komplexere Welt zeigt als im «Modus der Verschwörungstheorie». Das Aufwachen im «Modus der Verschwörungstheorie» liefert oft absolute Antworten und damit die Basis für Selbstaufwertung und Arroganz gegenüber den naiven «Schlafschafen».
Siehe auch: Lob der Kritik