Das Wissenschaftsmagazin «Higgs» hat sich mit dem Neurowissenschaftler Sebastian Dieguez unterhalten. Thema des Gesprächs war unter anderem die Frage: «Wie wird man Verschwörungstheoretiker?»
Hier daraus ein paar Kernaussagen:
☛ Man könne aus allen möglichen Gründen zum Verschwörungstheoretiker werden, sagt Dieguez: eine Neigung zum Misstrauen, mangelnde Bildung, Ängste, Vorurteile, Selbstüberschätzung oder eine Vorliebe dafür, mit seinen Ideen gegen den Strom zu schwimmen.
☛ Allerdings besteht dabei ein Risiko, dass es eskaliert, vor allem bei diesen grossen Ereignissen (wie der Corona-Pandemie), bei denen sich Masken, 5G, Coronavirus, Antisemitismus, Impfungen und so weiter vermischen. Wer dann an der Seite von Menschen demonstriert, deren Überzeugungen er oder sie nicht teilt, kann eine Form der Toleranz gegenüber allen Arten von verrückten und gefährlichen Ideen entwickeln.
☛ Das Festhalten an diesen verwunderlichen und unterschiedlichen Ideen geschieht sehr rasch, manchmal sogar bevor rationale Erklärungen verfügbar sind, und auf der Basis von sehr wenig Wissen.
☛ Die meisten Menschen wissen beispielsweise nicht einmal, was Chloroquin ist, die Substanz, die von Donald Trump gegen das Coronavirus propagiert wurde. Aber wie bei Gluten oder Glyphosat ist das Produkt selbst nicht wichtig. Es spielt keine Rolle. Die Menschen beziehen rasch und nur wegen einer vagen Vorstellung Stellung dafür oder dagegen.
☛ Verschwörungstheoretiker zeigen meist eine reaktive Haltung. Ein gemeinsamer Nenner von Verschwörungstheorien ist die Ablehnung offizieller Erklärungen, deshalb der berühmte Satz «Denke selbst».
Das «Denke selbst» als Mantra der Verschwörungstheoretiker
☛ Auch im Populismus steckt eine Verschwörungskomponente, wo Autoritäten und Eliten abgelehnt werden. Dieser Mechanismus zeigt sich auf andere Art und Weise auch bei manchen gefährlichen sektiererischen Entwicklungen. In diesem Rahmen ermöglichen verschwörungstheoretische Argumentationen Entwicklungen, die gesellschaftlichen und moralischen Codes zuwiderlaufen. Verschwörungstheoretiker besitzen in gewisser Hinsicht eine idealisierte, ja sogar naive Vision einer Welt, die frei von allen Formen der Autorität ist.
☛Verschwörungstheoretiker sind jedoch keine Menschen, die ihres freien Willens beraubt sind oder die durch «Fake News» radikalisiert worden wären. Verschwörungstheoretiker versuchen vielmehr, sich aus einer Welt zu befreien, die sie nicht wollen. Sie versuchen dabei, sich mit Menschen zu identifizieren, die als rebellisch gelten, und fallen dann in eine utopische Weltsicht.
☛ Wir sollten nicht einfach davon ausgehen, dass Verschwörungstheoretiker nur Opfer ihrer kognitiven Verzerrungen sind, also systematischer Denk- und Wahrnehmungsfehler aufgrund von Annahmen und Vorurteilen (= Bias). Es existieren zwar psychologische Dispositionen zu solchen Haltungen, aber die Position der Verschwörungstheoretiker ist vor allem ideologisch, sie ist nicht einfach das Resultat von Denkfehlern. Sebastian Dieguez spricht von einer bewussten «Wahl der Positionierung im sozialen Raum, die oft an den Hebeln des Narzissmus ansetzt».
☛ Es sei ziemlich herablassend, einem Verschwörungstheoretiker erklären zu wollen, dass er ein Opfer kognitiver Verzerrungen ist, erklärt Dieguez. Denn paradoxerweise handle es sich oft um sehr gut informierte Personen: «Aber es sind nicht diese Informationen, die sie zu Verschwörern machen. Es ist ihre Verschwörungstheorie, die die Art und Weise beeinflusst, wie sie sich informieren.»
Quelle:
«Die Position von Verschwörungstheoretikern ist vor allem ideologisch, nicht das Ergebnis von Denkfehlern» (Higgs Wissenschaftsmagazin)
Anmerkungen:
☛ Interessant ist hier vor allem die Idee, dass zuerst die Ideologie da ist, und aus dieser ideologischen Positionierung dann kognitive Verzerrungen folgen. Das wird oft umgekehrt gesehen: Die Denkfehler verfestigen die Ideologie. Viellicht wirken auch beide Vorgänge Hand in Hand.
☛ Zum Zusammenhang von Populismus und Verschwörungstheorien siehe auch:
Verschwörungstheorien und Populismus
☛ Das «Denke selbst» der Verschwörungstheoretiker tönt auf den ersten Blick gut. Als Mantra kann es aber zur Falle werden, wenn es zur Folge hat, dass vor lauter Misstrauen keinerlei Expertise von aussen mehr eingelassen wird, und wenn sich der betreffende Mensch sich nicht sehr der typisch menschlichen Denkfehler bewusst ist (Beispiel: Bestätigungsfehler).
☛ Zur beschriebenen Ablehnung von Autorität siehe auch:
Autoritätsaversion als Element in Verschwörungstheorien