Verschwörungsideologien boomen typischerweise in Krisenzeiten. Der Historiker Wolfgang Wippermann hat fünf Epochen beschrieben, in denen Verschwörungstheorien vermehrt auftraten. Diese fünf «Verschwörungszeiten» sollen hier skizziert werden.
-
Ausgehendes Mittelalter und beginnende frühe Neuzeit
Diese Epoche war durch verheerende Kriege und Krisen gekennzeichnet. Neben katastrophalen Kriegen traten Epidemien auf, insbesondere die Pest, und eine nachhaltige Klimaverschlechterung, die sogenannte «Kleine Eiszeit» (ca. 1350 – ca. 1850), die Missernten, Hungersnöte und Revolten zur Folge hatte.
Die Menschen suchten nach Ursachen für all die tragischen Ereignisse und nach Sündenböcken. Die fanden sie in Gestalt des Satans und seiner Agenten, insbesondere «der Juden» und auch der «Hexen». Die Reformation bewirkte kein Ende, sondern im Gegenteil eine Verstärkung dieser Ängste. Die beginnende Neuzeit wurde nicht als Anfang einer neuen und optimistisch stimmenden Epoche, sondern als Vorbote der düsteren und schrecklichen Endzeit aufgefasst. In dieser Endzeit würde der Teufel noch einmal versuchen, alle Macht an sich zu reissen. Dazu nutzt er die Unterstützung seiner Helfershelfer. Zu denen wurden neben Juden und «Hexen» auch Türken und – je nach vorherrschender Konfession – entweder Protestanten oder Katholiken gerechnet. Die Lage dieser Epoche war ein idealer Nährboden für die Entstehung, Verbreitung und Akzeptanz von Verschwörungsideologien, vor allem religiöser, präziser diabolischen Inhalts.
-
Die Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution
Durch die Aufklärung wurde die geistige Vorherrschaft der Kirche überwunden. Mit dem Sturz des Ancien Regimes beschränkte die Revolution die politische Macht der Konservativen. Das war nicht überall in Europa so. Es rief jedoch überall in Europa die konservativen und klerikalen Kräfte auf den Plan. Sie führten den überraschenden und hochgradig bedauerten Fall der alten Ordnung auf die Verschwörungen von Aufklärern, Illuminaten und anderen Geheimgesellschaften zurück. Hinter diesen Aktivitäten sollten wiederum der Teufel und «die Juden» stehen. Die konservativen und klerikalen Kräfte verfolgten politische Motive und Ziele, nämlich das Aufheben der Folgen und Errungenschaften der Französischen Revolution. Dabei ging es ihnen auch um die Aberkennung der bereits verkündeten Emanzipation der Juden, die Zurückdrängung der angeblich von Juden und Judenfreunden beherrschten aufklärerischen und liberalen Strömungen sowie um die Wiederherstellung der vermeintlich vor allem durch Juden bedrohten gottgewollten konservativen Ordnung.
-
Die Epoche der bolschewistischen Revolution, des Ersten und Zweiten Weltkriegs
Diese Epoche begann mit dem Ausbruch der bolschewistischen Revolution (Oktoberrevolution) in Russland 1917. Der plötzliche Sturz des zaristischen Regimes wurde auf eine Verschwörung zurückgeführt. Es kam die Befürchtung auf, dass Ähnliches auch in anderen Ländern passieren könnte. Hauptsächlich hatte man jedoch entsetzliche Angst vor der Angst und Weise, wie diese Revolution durchgeführt wurde: mit schrecklichem «rotem Terror», der den Terror der «Weissen», der Gegner der Bolschewiken, und selbst den «terreur» der Französischen Revolution weit in den Schatten zu stellen schien. Ausser von den Kommunisten und Bolschewisten wurde die gesellschaftliche Umwälzung der Oktoberrevolution nicht als «gute», sondern als «böse» Revolution aufgefasst. Man vermutete hinter ihr den Teufel und die teuflischen Juden.
Die krisenhaften Entwicklungen in der Folge des Ersten Weltkriegs, die Russische Revolution, der Zusammenbruch der Monarchien und die damit einhergehenden sozialen Unruhen weckten weltweit Bedürfnisse nach einfachen Erklärungsmustern, die insbesondere antisemitische Verschwörungstheorien begünstigten. Die fiktionalen «Protokolle der Weisen von Zion», entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland, bedienten diese Bedürfnisse nach einfachen Erklärungen auf geradezu geniale Weise. Die Nationalsozialisten gingen damit einen Schritt weiter. Sie erwarben die Rechte an der deutschen Ausgabe der «Protokolle», verbreiteten sie zu Hundertausenden und nutzen sie als Basis ihrer antisemitischen Propaganda. Nach dem Machtantritt von Adolf Hitler wurden sie offizieller Lehrstoff an den Schulen in Deutschland. Die Nationalsozialisten glaubten an die Existenz einer «jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung». Diese antisemitische und antikommunistische Verschwörungsideologie stand im Zentrum von Hitlers Weltanschauung. Sie bekam einen programmatischen Charakter, weil sie den beispiellosen Rassen- und Vernichtungskrieg der Nazis legitimierte.
-
Verschwörungsideologien im Kalten Krieg
Diese Epoche war geprägt von der Gefahr wechselseitiger und allgemeiner nuklearer Vernichtung. Die Angst davor war durchaus real. Denn beide Konfliktparteien, der Westen wie der Osten, waren (und sind immer noch) in der Lage, den jeweiligen Gegner vollkommen zu vernichten, und dies um den Preis der eigenen Vernichtung.
Die Ängste vor der gegenseitigen Vernichtung waren zwar real. Sie wurden jedoch mit irrealen und nicht unbedingt neuen Verschwörungsideologien geschürt und ausgenutzt.
Ein Beispiel für die starke Bedeutung von Verschwörungsideologien ist die McCarthy-Ära in den USA von 1947 bis etwa 1956. Die führende und namensgebende Figur war der Senator Joseph R. McCarthy (1908 -1957). Er widmete seine politische Karriere dem Kampf gegen eine vermeintliche kommunistische Verschwörung. McCarthy behauptete, der Regierungsapparat sein von Kommunisten unterwandert. Seine Vorwürfe waren völlig überzogen, doch war er gegen Verleumdungsklagen durch seine parlamentarische Immunität geschützt.
Kennzeichnend für die McCarthy-Ära waren Vorladungen und Verhöre politisch Verdächtiger vor parlamentarische Untersuchungsausschüsse – ins Visier gerieten neben Staatsbediensteten auch Künstler und Gewerkschafter. Dabei wurden der Ruf und die Karrieren vieler zu Unrecht beschuldigten ruiniert.
Ein Beispiel für Verschwörungstheorien als Mittel der politischen Propaganda im „Ostblock“ ist die Geschichte mit dem Kartoffelkäfer («Amikäfer») in der DDR. Im Jahr 1950 beschuldigte die DDR-Staatsführung die USA, aus Flugzeugen Kartoffelkäfer in grosser Zahl abgeworfen zu haben, um durch Missernten die DDR-Wirtschaft zu schädigen. Das war eine Strategie, um von hausgemachten wirtschaftlichen Schwierigkeiten abzulenken.
-
Verschwörungsideologien nach den Anschlägen vom 11. September 2001
Als fünfte und letzte Krisen- und Verschwörungsepoche beschreibt Wolfgang Wippermann die Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Angekündigt und prophezeit worden sei diese Epoche schon 1996 durch ein Buch des amerikanischen Politologen Samuel Huntington:
«Der von ihm sowohl vorhergesagte wie herbeigeschriebene ‘Kampf der Kulturen’ wird auch mit Hilfe von islamistischen und antiislamistischen Verschwörungstheorien geführt. Dabei werfen sich beide Seiten vor, teuflische oder ‘Heilige Kriege’ zu führen. ’Djihad’ und ‘Kreuzzug’ sind zu austauschbaren dämonologischen Begriffen geworden. Und auch hier fehlt der Antisemitismus nicht. Einige Islamisten vertreten die These, dass die Politik der USA und des Westens generell von Juden gesteuert werde. Von westlichen Verschwörungsideologien werden dagegen Israel und ‘die Juden’ verdächtigt, die eigentlichen Drahtzieher der von Islamisten verübten Terroranschläge vom 11. September zu sein.»
Die Radikalität und Verschrobenheit dieser antisemitischen und diabolischen Verschwörungsideologien sei nicht allein mit politischen Motiven zu erklären, schreibt Wippermann:
«Sie weisen vielmehr auf eine geistige Krise hin. Die Moderne insgesamt wird als bedrohlich empfunden. Rettung scheinen oder sollen fundamentalistisch verstandene und ausgelegte Religionen oder esoterische und okkulte Ersatzreligionen bieten. Die allgemeine Rückkehr zur Religion ist häufig mit einer Abkehr von der Aufklärung verbunden. Antiaufklärer fundamentalistischer und esoterischer Prägung sind auf dem Vormarsch, und in diesem geistigen Klima gedeihen Verschwörungsideologien besonders gut. Ihre Verbreitung wird zudem durch das Medium Internet begünstigt.
Es droht ein Rückfall in eine vor- und antiaufklärerische Zeit mit alten und neuen antisemitischen und diabolischen Verschwörungsideologien. Satan und seine Agenten werden uns nicht verlassen.
Quellen:
☛ Agenten des Bösen – Verschwörungstheorien von Luther bis heute, Wolfgang Wippermann, be.bra Verlag, Berlin 2007. Dieses Buch ist die Hauptquelle.
☛ „Verschwörungstheorien – früher und heute“
Begleitband zur Sonderausstellung «Verschwörungstheorien früher und heute» im Kloster Dalheim.
☛ Jenseits von Tabu und Paranoia? Eine kritische Studie zur Variabilität von Verschwörungstheorien und Verschwörungen, Roland Sonntag, Diplomica Verlag 2014.
☛ Wikipedia-Artikel zum Thema «McCarthy-Ära».
Anmerkung: Verschwörungsideologien heute
Wahrscheinlich ist es noch zu früh, zu den von Wolfgang Wippermann beschriebenen fünf Krisen- und Verschwörungsepochen schon eine weitere hinzuzufügen.
Auffallend ist aber, dass sich der Charakter von Verschwörungstheorien in den letzten Jahren nochmals deutlich verändert hat, seit sie sehr stark durch das Internet und insbesondere durch sogenannte «Soziale Medien» getrieben werden. Das zeigt sich in den Verschwörungstheorien rund um die Corona-Pandemie. Insbesondere die QAnon-Verschwörungsideologie ist hochgradig internetbasiert und hat zudem noch den Charakter einer «Mitmach-Verschwörungstheorie». Das ist ziemlich neuartig. Siehe dazu:
QAnon – eine gefährliche Verschwörungstheorie ohne Ende