Verschwörungsgläubige reagieren oft ausgesprochen allergisch auf alles, was nach Konsens und Mehrheitsmeinung aussieht. Ihre wütende Gegenreaktion erfolgt prompt. Sie wittern Manipulation, Propaganda, Täuschung von oben! Das Schlagwort dazu heisst: Mainstream.
Nun ist es aber so, dass der Mainstream in freiheitlichen Gesellschaften in der Regel eine beachtliche Schwarmintelligenz verkörpert. Öffentlichkeit und Wissenschaft, Medien, Laien und Fachleute, sie alle stehen im besten Fall zusammen im gesellschaftlichen Dialog über die Themen ihrer Zeit und erarbeiten gemeinsam eine Perspektive, die als einleuchtend und überindividuell nachvollziehbar gilt. Es entsteht aus diesem Zusammenwirken eine Perspektive, die angemessen ist; eine Sichtweise, die als passend wahrgenommen wird.
Zwar gibt es spektakuläre Fälle, in denen sich ein David mit seiner Aussenseitermeinung gegen einen Goliath aufgelehnt und ihn erfolgreich zu Fall gebracht hat. Meistens gilt aber doch, dass der Mainstream recht hat.
Nicht jeder ist ein Galilei. Siehe dazu: Galilei-Vergleich / Galilei-Argument
Verschwörungstheoretiker sind abhängig vom «Mainstream»
Für Verschwörungstheoretiker ist es so etwas wie ein Grundmuster, Mehrheitsmeinungen anzuzweifeln. Sie tun das oft sehr reflexhaft. Jan Skudlarek schreibt dazu in seinem Buch «Wahrheit und Verschwörung»:
«Es gibt Menschen, die würden trotzig aus dem Fenster springen, sofern ihnen ‘der Mainstream’ vom Fenstersprung abrät. Hauptsache dagegen.»
Obwohl Verschwörungsgläubige sich vom Mainstream distanzieren und dabei oft meinen, von ihm frei zu sein, sind sie in Wirklichkeit von ihm abhängig. Sie müssen fast zwangsweise auf jeden «Mainstream» reagieren. Und wenn nach dem «Corona-Mainstream» ein «Ukraine-Krieg-Mainstream» folgt, sind sie hier fraglos und reflexhaft ebenfalls dagegen. Sie haben auch keine Wahl, denn sie sind fixiert auf das «Dagegen».
Die Freiheit, mal zuzustimmen und mal abzulehnen, fehlt ihnen.
Dazu kommt noch, dass es den Mainstream als Einheit so nicht gibt. Es gibt in fast allen Bereichen einen mehr oder weniger ausgeprägten Meinungspluralismus. Verschwörungstheoretiker brauchen aber ein festumrissenes Feindbild. Deshalb ignorieren sie Nuancen in Öffentlichkeit und Medien und fantasieren sich diesen einheitlichen, homogenen Mainstream herbei, den sie als Feindbild so dringend brauchen.
Jan Skudlarek schreibt dazu:
«Natürlich kann man individuell und konkret Medien, Experten oder Wen-auch-immer kritisieren. Ein abstraktes Vorgehen gegen ‘den Mainstream’ ist jedoch nicht weniger als das, was Wahrheitssuchende vermeiden sollten: ein Paradebeispiel von toxischem Zweifel.»
Mehr zum Unterschied zwischen gesundem und toxischem Zweifel hier:
Über toxische Zweifel und toxisches Misstrauen
Wer diese Unterschiede klar sieht, kann es nicht mehr vom Tisch wischen, dass die offiziellen Storys in den meisten Fällen gar nicht so schlecht sind. Sie liegen sogar häufig erstaunlich richtig. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel.
Die Rede vom Mainstream hat oft eine politische Agenda
Wenn Verschwörungstheoretiker der offiziellen Version eine Gegengeschichte gegenüberstellen, geht es oft nicht um eine adäquate Beschreibung der Wirklichkeit. Es geht vielmehr darum, der etablierten Version zu widersprechen, und das geschieht oft, weil damit eine politische Agenda verbunden ist. Dieses Vorgehen zeigt sich beispielsweise oft beim «Truther» und selbsternannten Friedensforscher Daniele Ganser:
☛ Ganser stellt der Mainstream-Version zu 9/11 die faktenfreie Geschichte entgegen, wonach das Gebäude WTC 7 gesprengt wurde. Damit unterstellt er der damaligen US-Regierung die Beteiligung an einem ungeheuerlichen Verbrechen. Das passt zu seiner antiamerikanischen Agenda. Siehe: Daniele Ganser und WTC 7.
☛ Ganser unterstellt den etablierten Medien pauschal Manipulation und Propaganda. Bezüglich des Einsturzes von WTC 7 geht seine «alternative» Geschichte so, dass nur oder fast nur BBC darüber berichtet habe, und das sogar 20 Minuten zu früh. Er lässt dabei sehr viel Information weg und erweckt damit den Eindruck, dass die Mainstreammedien hier etwas Wichtiges verschweigen. Damit bedient er die Verschwörungstheorie von der Lügenpresse und bewirtschaftet seine eigene Agenda als derjenige, der sich als Kämpfer für die Wahrheit präsentiert. Siehe:
Daniele Ganser und die BBC-Meldung zu WTC 7
Daniele Ganser: Medienkritik mit ideologischer Schlagseite
☛ Ganser verbreitet zum Maidan-Aufstand in der Ukraine seit Jahren die unbelegte Unterstellung, dass dieses Ereignis von den USA gesteuert und finanziert wurde. Mit dieser Geschichte bedient er zugleich sowohl seinen notorischen Antiamerikanismus als auch seine jahrelange prorussische Agenda. Siehe dazu:
Daniele Ganser zum Ukraine-Krieg
Daniele Ganser: Manipulation durch verzerrte Maidan-Darstellung
Solche Gegengeschichten haben oft keinen Wahrheitswert. Sie werden häufig nur erzählt, um einer etablierten Geschichte zu widersprechen, dabei den Mainstream zu delegitimieren und auf dieser Basis ein eigenes Süppchen zu kochen.
Dieses Vorgehen ist charakteristisch sowohl für Populismus als auch für Verschwörungstheorien.
Verschwörungstheoretiker und Populisten treffen sich in der Ablehnung des Mainstreams
Verschwörungstheoretikern geht es nicht in erster Linie um eine adäquate Wirklichkeitsbeschreibung, sondern um möglichst heftige Kritik an Menschen und Institutionen. Und wer sich faktenfrei weigert, die Wirklichkeit eines in der Regel richtig liegenden Mainstreams anzuerkennen, hat in den allermeisten Fällen einen eigenen Plan, eine eigene Agenda. Aus diesem Grund müsse man in jedem Anti-Mainstream-Fanatismus einen ziemlich sicheren Hinweis auf politischen Populismus sehen, schreibt Jan Skudlarek.
So sind es vor allem Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretiker, die gern von Mainstream-Parteien und Mainstream-Medien reden. Das ist quasi ihr Delegitimierungs-Vokabular. Damit können sich Radikale zur ungerecht ausgegrenzten, angeblich klügeren Minderheit stilisieren – den „Aufgewachten“ – und sich zugleich von der angeblich denkfaulen, blinden Masse abheben (den „Schlafschafen“).
Verschwörungstheorien sind Möchtegernrebellen gegen einen zurechtfantasierten «Mainstream».
Jan Skudlarek gibt abschliessend einen Rat:
«Allen prinzipiellen Mainstreamkritikern möchte ich noch folgendes Sinnbild mitgeben: Mit der Wahrheit ist es manchmal so wie mit dem Strassenverkehr. Wenn alle in die falsche Richtung fahren, bist vermutlich du der Geisterfahrer (nicht die anderen).»
Wichtige Quelle:
«Wahrheit und Verschwörung – wie wir erkennen, was echt und wirklich ist», von Jan Skudlarek, Reclam 2019.
Siehe auch:
Mainstreammedien als Feindbild von Verschwörungstheorien