Verschwörungstheorien erleichtern mit ihrer Komplexitätsreduktion verlässlich die Orientierung in unübersichtlichen Situationen. Das gilt auch für die verschiedenen Varianten eines verschwörungstheoretisch unterfütterten Antiamerikanismus. Interpretiert man die Weltgeschehnisse durch diese konspirologische Brille, ergibt sich postwendend eine leichtverständliche Erklärung: Die Amerikaner stecken dahinter. Ein Beispiel dafür liefert Trigema-Chef Wolfgang Grupp in einem Interview auf BW24.
Zum Ukraine-Krieg befragt, vermutet Wolfgang Grupp, dass „der Amerikaner im Hintergrund alles steuert“.
Angesichts des Ukraine-Kriegs und der damit verbundenen Energie-Krise hatte der bekannte Textil-Unternehmer Wolfgang Grupp gesagt, dass er die USA als Treiber des Konflikts sieht: „Ich behaupte, dass der Amerikaner im Hintergrund alles steuert, damit er alleine eine Weltmacht bleibt.“
In dieser Aussage sieht der Politik-Experten Thorsten Benner, Direktor des Berliner Global Public Policy Institute (GPPi), gefährliche Parallelen zu Verschwörungstheorien. Er sagt dazu: „Klischeehafter könnte man reflexhaften Antiamerikanismus nicht in eine Verschwörungstheorie packen, um von einem vermeintlichen Geheimplan hinter der russischen Invasion zu fabulieren.“
Wolfgang Grupp habe mit seiner Behauptung „für den Politik-Unterricht perfektes Anschauungsmaterial für Verschwörungstheorien in der öffentlichen Diskussion geliefert“.
Quelle:
„Im Hintergrund steuert alles der Amerikaner“ – Aussage von Trigema-Chef erschüttert Experten (Frankfurter Neue Presse)
Weshalb irrt sich Wolfgang Grupp?
Der Textil-Unternehmer Wolfgang Grupp stellt den Ukraine-Krieg und die damit verbundene Energie-Krise so dar, als gäbe es mit den USA einen Akteur im Hintergrund, der die Vorgänge plant, steuert und kontrolliert. Diese Vorstellung setzt voraus, dass ein Mensch oder eine Menschengruppe den Verlauf der Geschichte den eigenen Absichten entsprechend lenken können, dass Geschichte also planbar ist. Das setzt ein mechanistisches Menschen- und Geschichtsbild voraus.
Geschichtliche, militärische und wirtschaftliche Vorgänge sind jedoch so komplex, dass sie nicht von einer Regierung, einem einzelnen Land oder einer Verschwörergruppe den Intentionen entsprechend steuerbar sind. Zufälle, Dummheit, Unfähigkeit, Irrtum und Verrat können die Pläne der «Hintermänner» durcheinanderbringen. Auch kommt es immer wieder zu Interessengegensätzen in der «Verschwörergruppe» und den Absichten der angeblichen «Strippenzieher» stehen Gegenkräfte im Wege. So kommt beispielsweise in den Aussagen von Wolfgang Grupp die Ukraine als eigenständiger Akteur mit ihrem Bestreben nach Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Russland gar nicht vor. Wenn alles von den Amerikanern gesteuert wird, sind die Ukrainerinnen und Ukrainer nur Marionetten.
Siehe auch:
☛ Geschichte ist nicht planbar: Mechanistisches Weltbild der Verschwörungstheoretiker
Geschichtskompetenz (historical literacy) zur Vorbeugung gegen Verschwörungstheorien
☛ Zufall, Dummheit, Schlamperei, Inkompetenz, Fehleinschätzung oder Irrtum darf es für Verschwörungstheorien zur Erklärung von Fehlverhalten nicht geben. Denn Verschwörungstheorien gehen von Bösartigkeit aus.
Aber gerade Faktoren wie Zufall, Dummheit, Schlamperei, Inkompetenz, Fehleinschätzung oder Irrtum sind es, die der verschwörungstheoretischen Vorstellung von der Plan- und Kontrollierbarkeit der Geschichte entgegenstehen. Zu diesem Thema interessant:
Hanlon’s Rasiermesser / Hanlon’s Razor
Zur scheinbaren Ausschaltung des Zufall mit Hilfe von Verschwörungstheorien siehe:
Kontingenzbewältigung / Zufalls-Verleugnung
☛ Wolfgang Grupp steht mit seinem «reflexhaften Antiamerikanismus» natürlich nicht allein da. Als prominentes Beispiel pflegt der «Truther» und selbsternannte Friedensforscher Daniele Ganser dieses «Hobby» schon seit Jahren.