Viele Verschwörungstheorien präsentieren sich wie ein skurriles Hobby für Eigenbrötler, zum Beispiel wenn ansonsten ganz normale Leute zu beweisen suchen, dass die Erde in Wirklichkeit flach ist. Ernster wird die Sache, wenn aufgeheizte Verschwörungstheorien in die Politik schwappen. Dann können Kriege und Genozide die Folge sein, wie bei der angeblichen «jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung» im «Dritten Reich». Oder es kommt zum Sturm auf das Kapitol, wenn ein Mega-Verschwörungstheoretiker im Weissen Haus sitzt und seine von QAnon inspirierten Anhänger aufputscht. Wenig Beachtung findet in der Öffentlichkeit, dass Verschwörungstheorien nicht selten entscheidend durch religiöse Elemente geprägt sind. Damit verbunden ist ein erhebliches Gefahrenpotenzial.
Der Teufel als Ur-Verschwörer
Verschwörungstheorien im modernen Sinn existieren seit der Neuzeit. Erst die Zurückdrängung religiöser Vorstellungen schuf ausreichend Raum für gedankliche Konstrukte, in denen die Verfolgung von geheimen, bösen Plänen explizit einer Gruppe von Menschen zugeschrieben wurde. Moderne Verschwörungstheorien sind deshalb säkular. Das Böse wird innerweltlichen Verschwörern zugeschrieben. Doch gibt es unverkennbar religiöse Vorläufer. Der Teufel ist in dieser Hinsicht die prominenteste Figur.
Judentum und Christentum sind grundsätzlich monotheistische Religionen. Es gibt nur einen Gott, nur ein Prinzip. Der Teufel wird dazu im Verlaufe seiner Karriere einen bedeutenden Gegenakzent setzen. Noch bei Hiob im Alten Testament tritt der Teufel als kleiner Handlanger Gottes auf. Er fungiert als informeller Mitarbeiter im perfiden Plan, Hiob mit allen möglichen Übeln zu plagen, um seine Glaubensstärke zu prüfen. In seiner weiteren Laufbahn wird der Teufel eigenständiger und entwickelt sich zu einem partiellen Gegenspieler Gottes, der das Böse verkörpert. Damit verbunden sind dualistische Vorstellungen. Gut und Böse, Licht und Finsternis treten zunehmend als Gegensätze auf, die miteinander im Kampf stehen. Es sind solche dualistischen Vorstellungen, die aufgeladen mit Wut und Hass in aktuellen Verschwörungstheorien wieder auftauchen. Uralte Teufelsvorstellungen werden rezykliert, säkularisiert, internetgängig gemacht und als Propagandaelemente eingesetzt. Das Böse bekommt in einer komplex gewordenen Welt wieder einen klar definierten Ort.
Ein Beispiel dafür ist die Kampagne der ungarischen Regierung unter Viktor Orban gegen den jüdischen Investor und Philanthropen George Soros. Orban pflasterte sein Land zu mit Grossplakaten, von denen Soros undurchsichtig herablächelt neben dem Slogan „Lassen wir es nicht zu, dass Soros zuletzt lacht!“ – Mit einer grosszügig plakatierten Prise Verteufelung eint man das eigene Lager und hat einen Sündenbock zur Ablenkung von eigenen Schwächen.
Dualismus in Religion und Verschwörungstheorien
Es sind aber nicht allein rezyklierte Teufelsvorstellungen, die als religiöse Elemente in Verschwörungstheorien wieder auftauchen. Gräbt man etwas tiefer, kommt vor allem der Dualismus in seinen verschiedenen Ausprägungen ins Blickfeld. Vor, neben und im Frühchristentum tauchen dualistische Vorstellungen auf, die sich über Jahrhunderte erhalten haben und in aktuellen Verschwörungstheorien wieder auftauchen.
Dabei lohnt sich vor allem ein Blick auf die Gnosis. Gnostische Bewegungen entfalteten sich vor allem im 2. und 3. Jahrhundert n. u. Z. innerhalb und zum Teil auch ausserhalb des Christentums. Sie sind charakterisiert durch einen starken Dualismus mit dem Kampf zwischen Licht und Finsternis, Gut und Böse. Dazu kommt ein ausgeprägter Erlösungsglaube. Die Gnosis entwickelte sich im 2. Jahrhundert zum theologischen Hauptgegner der frühen Kirche.
Eine ganze Reihe von Elementen aus der Gnosis taucht in aktuellen Verschwörungstheorien wieder auf. Besonders gut aufzeigen lässt sich das am Beispiel der QAnon-Verschwörungsideologie.
Gnostische Elemente in Verschwörungstheorien
☛ Dualismus
In der Gnosis gibt es zwei Gottheiten: Einen bösen Schöpfergott (Demiurg), der die Welt erschaffen hat, und einen guten Erlösergott. Damit ist der Dualismus von Gut und Böse von Anfang an gesetzt. Die scharfe Trennung in Gut und Böse zeigt sich auch in vielen Verschwörungstheorien. Der Kochbuchautor und QAnon-Verschwörungsideologe Attila Hildmann zum Beispiel beschreibt eine böse liberale «Elite», die in Bunkern und Höhlen unter Europa massenhaft Kinder gefangen hält und foltert, um aus ihrem Blut das angebliche Verjüngungsmittel Adrenochrom zu gewinnen. Auf Seite der Guten stehen Trump, Putin und Xi, die sich dankenswerter Weise um die Befreiung der Kinder bemühen. 100 000 US-Soldaten kämpfen in den Bunkern und Höhlen im Auftrag Trumps, um die Kinder zu retten…..
Die Gnosis liefert nicht nur eine dualistische Welterklärung (Kosmologie), sondern auch eine dualistische Anthropologie (Lehre vom Menschen). Die Gnostiker teilten die Menschen auf in «Pneumatiker» (Geistmenschen), das sind die Erleuchteten, Wissenden, also sie selbst, und in die Nicht-Erleuchteten. Auf die Nicht-Erleuchteten «Psychiker» («Seelenmenschen») und «Hyliker» («Stoffmenschen») schauten die «Pneumatiker» ziemlich arrogant herab.
Im stark gnostisch geprägten und dualistischen Manichäismus, der persische Wurzeln hat, gab es eine Kaste der Gurus („electi“), die ihre Hörer („auditores“) in die Geheimnisse der Lehre einführten.
Diese dualistische Trennung vertreten viele Verschwörungsgläubige sehr ähnlich, wenn sie sich selber als «Aufgewachte» sehen, und alle anderen, die nicht an die Verschwörungstheorie glauben, als «Schlafschafe» bezeichnen, welche die Wahrheit noch nicht erkannt haben.
☛ Der Glaube an eine Erlösergestalt, welche in die Wahrheit und ins Heil führt.
Bei den christlichen Gnostikern ist Jesus Christus die Erlösergestalt. Im Manichäismus sind es die „electi“, welche die „auditores“ zum Licht führen.
Auch in Verschwörungstheorien tauchen Erlösergestalten auf. Im QAnon-Kult ist es Donald Trump, der gleich die ganze Welt retten soll. Es gibt aber auch beschränktere Erlöserfiguren.
Als gegenwärtige «Erlösergestalten» in Verschwörungstheorien stehen vor allem Influencer in den sozialen Medien im Vordergrund. Das sind Figuren wie Oliver Janich, Attila Hildmann, Michael Wendler, Xavier Naidoo, Coach Cecil, Ken Jebsen, Daniele Ganser oder Christina von Dreien. Auch sie „erlösen“, indem sie angeblich Menschen ins Licht, in die Wahrheit führen, oder zu mindestens mit suggestiven Fragen eine ganz bestimmte Wahrheit hinter der Fassade nahelegen.
YouTube Videos sind dabei die bewährtesten «Lehrmittel» – und wie in der Gnosis kann man beliebig tief einsteigen.
☛ Versprechen und Vision einer endzeitlichen Erlösung für die Auserwählten und Verderben für die anderen
In der Gnosis herrscht zwischen dem Reich des Lichtes und dem Reich der Finsternis ein unerbittlicher kosmischer Kampf, der schlussendlich in der vollständigen Trennung und damit in der Vernichtung des Reiches der Finsternis endet. Denn in der Vermischung der beiden Prinzipien Licht und Finsternis liegt das Grundübel, der Kern allen Leidens.
Verschwörungstheorien bieten in unterschiedlichen Varianten «endzeitliche Erlösung» an. Auf den Tag der Amtseinsetzung von Joe Biden als US-Präsident fantasierten QAnon-Anhänger und -Anhängerinnen den grossen Tag der Wende herbei: Das Militär wird einschreiten und die führenden Demokraten und andere Feinde Trumps vor laufenden Fernsehkameras verhaften. Alles Böse wird so eliminiert und Trump als Heilsbringer wieder eingesetzt. Man muss nur die böse Elite (also die satanische Macht) beseitigen und dann bricht der umfassende Friede aus. Da stellt sich die Frage, was Menschen zu tun bereit sind, um diese Vision zu verwirklichen. Diverse durch Verschwörungstheorien mitbegründete Amokläufe gab es ja schon, die aus Sicht der Attentäter das Böse eliminieren sollten.
☛ Missionarismus
Gnostiker zeigen eine grosse Bereitschaft, als Propheten aufzutreten und ihr Erlösungswissen der Menschheit zu verkünden.
Der Auftritt als wissender Prophet («Aufgewachter») gehört aber auch zum Repertoire vieler Verschwörungstheoretiker. Mit ihrem Missionarismus toben sich Verschwörungsgläubige vor allem im Internet aus.
Fazit:
☛ Nicht jede Verschwörungstheorie enthält religiöse Elemente. Aber wenn religiöse Elemente vorhanden sind, dann ist es wichtig, insbesondere alle dualistischen Aspekte genau im Auge zu behalten.
☛ Dualistische Elemente in Verschwörungstheorien können Sündenbockdenken, Feindbildproduktion, Polarisierung und Radikalisierung fördern. Sind Gut-Böse-Konstellationen in Verschwörungstheorien mit Hass und Wut aufgeladen, können sie zur Grundlage für Gewaltanwendungen werden.
☛ In der Auseinandersetzung mit religiösen Elementen in Verschwörungstheorien ist es wichtig, Dualismen zu erkennen und sie in Frage zu stellen. Anstelle der scharfen Trennung in Licht und Finsternis, Gut und Böse, wäre es sinnvoll, Ambiguitätstoleranz zu fördern.