In ihrem sehr lesenswerten Buch «Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen» kommen Katharina Nocun und Pia Lamberty auf die Attentate von Christchurch, Halle und Hanau zu sprechen. Und sie weisen auf die Prozesse der Radikalisierung hin, die solchen extremistischen Taten voraus gehen:
«Im Laufe der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, was für eine zentrale Rolle Verschwörungsmythen bei der Radikalisierung von rechtsextremen Gruppierungen und Einzeltätern spielen. Verschwörungserzählungen sind quasi der Klebstoff, der rechte Gruppen zusammenhält und sie gar mit der sogenannten ‘Mitte der Gesellschaft’ verbinden kann.»
Besonders deutlich werde das bei antisemitischen Mythen:
«Wer davon überzeugt ist, dass die Regierung alle nur belügt, von Juden kontrollierte Pharmafirmen Gift in Impfungen mischen und Juden die Welt im Geheimen in den Abgrund führen wollen, für den sind Gewalttaten oder sogar terroristische Angriffe aus vermeintlicher ‘Notwehr’ nur die letzte logische Konsequenz dieses Denkens. Denn Demokratie bietet innerhalb solch eines Weltbildes keine Handlungsspielräume mehr.»
Nocun / Lamberty weisen auf die Erkenntnisse der Journalisten Jamie Bartlett und Carl Miller hin. Sie haben sich verschiedene Terrorgruppen genauer angesehen. Ihrer Meinung nach gab es zwar zahlreiche Untersuchungen zur Erforschung der Faktoren, die zur Entstehung von Extremismus beitragen. Der Einfluss von Verschwörungserzählungen sei dabei aber nicht berücksichtigt worden. Die Journalisten untersuchten darum Texte, Ideologien und Propaganda von mehr als 30 extremistischen Gruppen, die in den letzten 30 Jahren aktiv waren. Im Fokus stand dabei die Frage, welche Rolle Verschwörungserzählungen in der politischen Mobilisierung von Gruppen wie Al-Qaeda, Islam4UK oder Combat 18 haben. Auf der Basis ihrer Analysen haben sie drei Punkte herausgearbeitet, die zeigen, wie Verschwörungsideologien die Radikalisierung beschleunigen können:
- Gut-Böse-Schemata und Verstärkung von Gruppengrenzen.
- Immunisierung.
- Legitimierung von Gewalt.
Genaueres zu den drei Punkten:
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Gut-Böse-Schemata und Verstärkung von Gruppengrenzen fördern Radikalisierung.
Verschwörungserzählungen besitzen wegen ihrer identitätsstiftenden Funktion die Kraft, Gruppenkonformität zusätzlich zu verstärken. Denn sie intensivieren das Freund-Feind-Bild und führen zu einer stärkeren Verschmelzung mit der eigenen Gruppe. Wer überzeugt ist, dass die Regierungen Chemtrails versprühen oder dass ein Bevölkerungsaustausch geplant ist, folgt häufig auch simplifizierten Schuldzuweisungen und pauschalen Feindbildkonstruktionen. Einer selbst konstruierten »Wir«-Gruppe als das Gute stehen die »anderen« als Bedrohung gegenüber.
Ist ein Mensch wirklich davon überzeugt, dass die US-Regierung den Terroranschlag vom 11. September 2001 nur inszeniert und dafür sogar Todesopfer in Kauf genommen habe, sieht er sich damit automatisch auf der Seite der scheinbar Guten. Alle Menschen, die der eigenen, häufig als homogen dargestellten Gemeinschaft nicht angehören, werden als anders markiert. Im Umfeld von Verschwörungsmythen ergeben sich daraus prinzipiell zwei unterschiedliche Rollen für Andersdenkende: Es gibt einerseits die bösen Verschwörer (»die da oben«, »die Anderen«) und ihre Unterstützer, die darauf hinwirken, die Gesellschaft zu zerstören. Und im Gegensatz dazu gibt es die ignoranten Schlafschafe, die von all dem nichts wissen wollen.
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Immunisierung fördert Radikalisierung
Verschwörungsideologien tragen wesentlich zur Identität von Verschwörungsgläubigen bei. Deshalb wehren diese Kritik mit einer Reihe von Immunisierungsstrategien ab. In der antipluralistischen Weltsicht extremistischer Gruppen werden Menschen, die mit der Rhetorik des Verschwörungsideologen nicht einverstanden sind und Kritik äussern, rasch als Teil des verhassten Establishments dargestellt. Wer Kritik äussert, wird als Teil der Verschwörung gesehen, oder als Marionette der Verschwörer, die die Wahrheit nicht sehen will. In einem derartigen Klima sind Diskussionen und demokratische Auseinandersetzungen unmöglich.
Wer eine andere Meinung vertritt als die Verschwörungsgläubigen, wird herabgesetzt, delegitimiert oder gar bedroht.
Auch innerhalb von extremistischen Gruppierungen kann sich im Verlauf der Zeit eine (scheinbare) Harmonisierung von Diskursen entwickeln. Wer sich intern kritisch äussert, wird als Teil der Verschwörung diffamiert. So kann kein offener, kritischer Austausch stattfinden.
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Legitimierung von Gewalt
Wer an Verschwörungstheorien glaubt, sieht sich tendenziell auf der guten Seite, die gegen ein scheinbar übermächtiges Böses kämpft. Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien werden in ihrem Empfinden damit automatisch zu Opfern, die von der Elite betrogen werden (Siehe dazu: Opfermentalität / Selbst-Viktimisierung).
Jede Handlung der «Verschwörer» wird in dieser Weltsicht automatisch als Beleg für dessen vermeintliche Niedertracht interpretiert. Wenn zum Beispiel der US-Milliardär George Soros den grössten Teil seines Vermögens für wohltätige Zwecke spendet, ist das in der Weltsicht der Verschwörungsgläubigen keine Philanthropie, sondern nur ein weiterer Beleg für die bösen Absichten des jüdischen Investors.
Im Umkehrschluss sehen Verschwörungsideologen das eigene Kollektiv automatisch auf der Seite des vermeintlich Guten. Das hat zur Folge, dass die eigenen Handlungen stets als legitim erscheinen und durch die boshaften Taten der Gegenseite gerechtfertigt werden können.
Deshalb können Verschwörungsideologien als Antreiber für gewalttätige Handlungen dienen.
Wer meint, dass die Welt im Geheimen von bösartigen Verschwörern gelenkt wird, die vor nichts zurückschrecken, sieht Gewalt als letzte Möglichkeit an, um sich gegen die Verschwörung zu wehren. Rechtsextreme Personen und Gruppen nutzen dieses Potenzial von Verschwörungsideologien gezielt zur Mobilisierung und Radikalisierung.
Der Rechtsterrorist Andres Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordete, berief sich vor Gericht auf «Notwehr». Auch bei weiteren Attentaten von Rechtsextremisten spielten solche Legitimierungsstrategien mit.
Fazit:
Verschwörungsideologien sind ein integraler und hoch gefährlicher Bestandteil des Rechtsextremismus. Sie festigen die eigene Gruppe, können Gewalt legitimieren und dienen der Radikalisierung.
Quelle:
Fake Facts, Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, von Katharina Nocun und Pia Lamberty.
Siehe auch: