Der Terror-Experte und Extremismus-Forscher Peter R. Neumann hat sich auf «Spiegel online» zur Entwicklung in den USA nach der Stürmung des Kapitols geäussert. Dabei sieht er vor allem eine Gefahr durch radikalisierte QAnon-Anhänger.
Hier daraus ein paar Kerngedanken:
☛ Neumann sieht in der gewaltsamen Besetzung des Kapitols keinen Terrorismus, aber einen Vorgeschmack davon.
☛ Radikalisierte QAnon-Anhänger betrachtet er für die USA in den nächsten Jahren als grosse Gefahr.
☛ Terroristische Gruppen fallen nicht vom Himmel. Sie bilden sich meist aus größeren, radikalen Bewegungen, denen es nicht gelingt, ihre Überzeugungen auf friedliche Weise durchzusetzen.
☛ In den USA hat sich seit 2017 eine solche Bewegung entwickelt, die inzwischen mehr als eine Million Anhänger hat – darunter Reichsbürger (sogenannte Sovereign Citizens), Rassisten, Mitglieder von Bürgermilizen, fundamentalistische Christen sowie konservative Unterstützer von Donald Trump.
☛ Diese Bewegung eint nicht eine herkömmliche politische Ideologie, sondern eine Verschwörungstheorie, nach der die USA von einem Netzwerk von Satanisten und Kinderschändern regiert wird. Donald Trump soll gegen diese Leute einen geheimen Krieg führen.
☛ Als anonymer Schöpfer dieser Bewegung tritt ein angeblicher Regierungsinsider auf, der im Internet Botschaften hinterlässt und sie mit dem Buchstaben Q unterschreibt. Das führte zur Bezeichnung QAnon.
☛ Gefährlich ist die QAnon-Bewegung durch ihre totale Ablehnung des politischen Systems. Für QAnon-Anhänger sind ausschliesslich Donald Trump und seine engsten Vertrauten legitim. Der restliche Staatsapparat wird zu den Volksfeinden gezählt, mit denen Kompromisse unmöglich sind.
QAnon-Anhänger warten auf den Tag der Abrechnung
☛ US-Präsident Donald Trump hat die Bewegung angestachelt, sie jedoch gleichzeitig im Zaum gehalten. Solange er die Macht innehatte, konnten QAnon-Anhänger hoffen, dass sein angeblicher Krieg gegen den »tiefen Staat« erfolgreich sein würde. Q kündigte in seinen Verlautbarungen immer wieder einen »Tag der Abrechnung« an, an dem Trump seine Gegner verhaften und ihnen den Prozess machen würde.
☛ Nach Trumps verlorener Wahl existiert jedoch kein Präsident mehr, der den vermeintlichen Krieg von höchster Stelle steuert. Dadurch entsteht für die QAnon-Anhänger eine völlig neue Situation.
☛ Neumann sieht die gewaltsame Besetzung des Kapitols als einen (letzten) Versuch, die Machtübernahme von Joe Biden zu verhindern. Die unmittelbare Folge davon sei, dass sich gemäßigte Konservative von QAnon abwenden, da sie keinen Bürgerkrieg wollen und die tragischen Konsequenzen der Aktion – fünf Menschen starben – sie abschrecken.
☛ Neumann ist überzeugt, dass QAnon als (Massen-)Bewegung in den kommenden Monaten deshalb nicht wachsen wird, sondern schrumpfen.
☛ Die Gefahr, die von ihr ausgeht, werde dadurch jedoch nicht geringer, schreibt Neumann. Denn für eine Minderheit gehe es nun ums Ganze. Nach dem Antritt der Regierung Biden am 20. Januar gibt es für sie keinen Grund mehr sich zurückzuhalten. Ohne Trump fällt der Staatsapparat in der Sicht der QAnon-Anhänger vollständig in Feindeshand.
Zukünftige terroristische Bedrohung durch QAnon-Anhänger
☛ Der Terror-Experte und Extremismus-Forscher Peter R. Neumann schreibt, dass die terroristische Bedrohung, die sich aus dieser Entwicklung ergibt, in den nächsten Jahren für die USA größer und gefährlicher sein wird als die von Dschihadisten. Er führt dazu vier Gründe an:
☛ Erstens habe die QAnon-Bewegung mehr Unterstützer als ISIS oder al-Qaida. Selbst wenn von einer Million nur ein Prozent der QAnon-Anhänger gewaltbereit seien, wären dies 10.000 Gefährder. Im Vergleich damit sei die Anhängerschaft der Dschihadisten klein.
☛ Zweitens sei die QAnon-Bewegung schwer bewaffnet. Zahlreiche QAnon-Anhänger seien bei Bürgermilizen aktiv. Dagegen sei über dschihadistische Milizen nichts bekannt. Nur wenige der 500 Dschihadisten, die wegen Terrorismus vor Gericht standen, waren militärisch ausgebildet oder galten als Waffennarren. Oft scheiterten sie daran, funktionierende Sprengsätze zu bauen.
☛ Drittens könne QAnon sich auf viel breitere Unterstützung in der Bevölkerung stützen.
☛ Viertens habe die QAnon-Bewegung Militär und Polizei infiltriert. Auch hier gebe es noch keine genauen Zahlen, doch waren unter den Randalierern im Kapitol nach verschiedenen Berichten mindestens ein Dutzend aktiver Soldaten. Darüber hinaus hat die Polizei in Seattle mehrere Beamte wegen Beteiligung an der Kapitol-Besetzung suspendiert. Für Fachleute ist dies nicht überraschend. Aus diesen Kreisen gibt es seit Jahren Warnungen davor, dass rechtsextreme Gruppen das Militär und die Polizei aktiv unterwandern.
Fehlendes Wissen für Kampf gegen Rechtsextremismus bei Sicherheitsbehörden
☛ Peter R. Neumann weist darüber hinaus noch auf einen wichtigen Punkt hin: «Während amerikanische Regierungen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 Milliarden Dollar investiert haben, um Dschihadisten zu bekämpfen, wurden die Mittel für die Bekämpfung des Rechtsextremismus in den letzten Jahren massiv gekürzt. Im Heimatschutzministerium und bei der Polizeibehörde FBI fehlt es an Wissen und Personal, um der neuen Bedrohung effektiv zu begegnen.»
Für Neumann ist der Sturm aufs Kapitol deshalb kein Schlusspunkt, sondern der spektakuläre Auftakt einer massiven terroristischen Bedrohung, die Amerika noch Jahre beschäftigt wird.
Peter R. Neumann lehrt und forscht als Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London. In den Jahren 2008 bis 2018 war er dort Direktor des International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR).
Quelle:
Sturm aufs Kapitol: Die gefährlichste Bewegung unserer Zeit (Spiegel online)
Anmerkungen:
☛ Manche Republikaner und QAnon-Anhänger verbreiten die Behauptung, beim Sturm auf das Kapitol handle es sich um eine False-Flag-Organisation. Das heisst: In Wirklichkeit handle es sich um eine Aktion liberaler Kreise oder der linken «Antifa», die dadurch Trump schaden wollten. Siehe dazu:
Rechte Verschwörungstheoretiker präsentieren Kapitol-Erstürmung als «False-Flag-Operation»
☛ Unter manchen QAnon-Anhängern zirkuliert die Erklärung, bei der Erstürmung des Kapitols handle es sich um eine Inszenierung und die durch einen Schuss umgekommene Frau sei gar nicht tot, sondern eine Krisenschauspielerin.
☛ Zurzeit sind offenbar einige QAnon-Anhänger nervös, weil die angekündigen Verhaftungen von Mitgliedern des «Tiefen Staates» durch Trump nicht geschehen sind. Nichtsdestotrotz glauben viele noch, dass Donald Trump am 20. Januar als US-Präsident für eine weitere Amtszeit vereidigt wird. Das deutet darauf hin, dass sie sich sehr einseitig in ihren «Alternativen Medien» informieren.
☛ Interessant ist Neumanns Hinweis, dass die QAnon-Bewegung nicht durch eine politische Ideologie, sondern durch eine Verschwörungstheorie zusammengehalten wird. Das passt zu einer Bemerkung von Peter Pomerantsev, wonach heute Verschwörungstheorien anstelle von Ideologien treten. Dann wäre QAnon also ein Beispiel für die Aussage von Pomerantsev.