Der Münchner Psychiatrie-Professor Dr. Hans Förstl stellt in der Fachzeitschrift »DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift« seinen Standpunkt zu Verschwörungstheorien vor. Die Pharmazeutische Zeitung bringt dazu einen zusammenfassenden Artikel. Hier daraus ein paar Kernaussagen.
Förstl schreibt:
«Verschwörungstheorien haben lange Tradition und entstehen bevorzugt in anhaltenden Bedrohungssituationen. Den Nährboden bilden eine ängstliche Grundgestimmtheit, die Empfindung eigener Machtlosigkeit, spürbare soziale Auswirkungen sowie unzureichende Erklärungen und Problemlösungen.»
Mythen und Gerüchte können sich heute über moderne Kommunikationswege und soziale Medien sehr schnell verbreiten.
Sie richteten sich typischerweise gegen ein politisches, mediales, wirtschaftliches und wissenschaftliches »Establishment«, um dessen »Fehler und skrupellose Machenschaften« sichtbar zu machen.
Die Welt wird dabei in Gut und Böse unterteilt und bestimmte Menschen oder Gruppen zu Sündenböcken abgestempelt.
Wer tendiert nach Psychiatrie-Prof. Förstl zu Verschwörungstheorien?
Nach Förstls Erfahrung tendieren zu Verschwörungstheorien eher jüngere Männer, die bei geringerer emotionaler Stabilität häufiger zu Unnachgiebigkeit neigen.
Zu den prädisponierenden Wesenszügen gehöre eine religiöse, konservative und fremdenfeindliche Gesinnung ebenso wie ein Hang zur Langeweile. Als stärksten individuellen Faktor führt Förstl jedoch den bestehenden Glauben an eine andere ältere Verschwörungstheorie an.
Aufgeschlossenheit sowie ein rational-analytischer Denkstil wirkten demgegenüber protektiv, während ein höherer IQ nicht zwingend nützlich sei.
Anhaltende Ungewissheit und unberechenbare Situationen seien für Menschen kaum zu ertragen.
Sie suchten deshalb nach gedanklichen Bewältigungsstrategien. Aus psychiatrischer Sicht bedienten Verschwörungsgedanken eher Menschen mit schizotyper Persönlichkeit oder psychopathischen Zügen, schreibt Förstl.
Der Psychiatrie-Professor charakterisiert Verschwörungsgedanken dabei so:
«Die Wirklichkeit ist unüberschaubar, zum Teil rätselhaft und schwer ausreichend zu erschließen. Eine (Verschwörungs-)Theorie bringt Ordnung ins Chaos und liefert eine schlüssige, eine konklusive Lösung. Die gemeinsame Überzeugung von der Wahrheit dieser Theorie, von Teilhabe am überlegenen ‚Königswissen‘, vermittelt ein inklusives Wir-Gefühl: Wir wissen es besser und halten zusammen. Davon ausgeschlossen, exkludiert, sind jene, die dieses ‚Insider-Wissen‘ nicht teilen oder ihm sogar widersprechen.»
Daraus folge einerseits eine subjektive Entlastung der Verschwörungsanhänger, aber auch eine gesellschaftliche Entsolidarisierung.
Förstl erklärt, dass Verschwörungsideen objektiv nicht nur ihren Anhängern schaden, die zum Beispiel auf Schutzmaßnahmen verzichten. Sie könnten vielmehr auch Zweifel an den Maßnahmen gegen das Virus säen, die gesellschaftliche Solidarität unterminieren und die öffentliche Diskussion verzerren.
Für viele Menschen sei schwer begreifbar, dass der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn im Krisenfall nie plötzlich und umfassend erzielt wird.
So entstehe der Eindruck, dass die Wissenschaft ihrer Aufgabe unzureichend gewachsen sei, erklärt Psychiatrie-Prof. Förstl und meint deshalb, dass man sich »einem gewissen Verständnis für die Wissenschaftsskepsis der Verschwörungstheoretiker nicht verschließen« solle.
Quelle:
Verschwörungstheorien aus psychiatrischer Sicht (Pharmazeutische Zeitung)
Anmerkungen:
☛ Zwar ist die Sichtweise eines Psychiatrie-Professors auf Verschwörungstheorien interessant. Doch ist es wichtig dabei festzuhalten, dass Verschwörungstheoretiker in der Regel nicht psychiatrisch krank sind. Verschwörungstheorien zu psychiatrisieren ist jedenfalls nicht sinnvoll.
☛ Psychiatrie-Professor Förstl weist darauf hin, dass Verschwörungstheorien gesellschaftliche Entsolidarisierung zur Folge haben können. Das ist ein wichtiger Aspekt, der oft übersehen wird.