Die Übergänge von Corona-Skeptikern zu Corona-Leugnern und zu Corona-Verschwörungstheoretikern sind fliessend. Wenn von «Corona-Diktatur» die Rede ist und NS-Vergleiche gemacht werden («Impf-Gestapo», Holocaustvergleiche, aufgenähte «Judensterne»), dann ist sehr naheliegend, dass diesen Irrlichtereien Verschwörungstheorien zugrunde liegen. Wer angesichts defacto demokratischer Staaten wie der Schweiz oder Deutschland von «Corona-Diktatur» fabuliert, muss von irgendwelchen geheimen Mächten im Hintergrund fantasieren, die die wahre Macht in den Händen halten.
Christoph Zürcher hat dazu im Magazin der NZZ am Sonntag (Nr. 44/2021) einen interessanten Beitrag geschrieben:
«Die Gegner der sogenannten Massnahmen können diese bekanntlich nicht zu dramatisch formulieren. Sie sehen sich offenbar in einer Art manichäischen Auseinandersetzung, in einem Kampf von Licht und Finsternis. Teil der Dramatisierung ist, auch von einer Diktatur zu reden (was vor allem in der Schweiz, wo bald die zweite Abstimmung über diese diktatorischen Zustände ansteht, eine besonders kühne Zuspitzung ist). Und dass diese komparative Diktaturforschung im Dienste der Propaganda auch des Öfteren beim Nationalsozialismus landet («Impf-Gestapo» usw.), liegt in der Logik der Sache. Ich habe eine Schwäche für Drama. Wenn dafür Wahnvorstellungen bemüht werden müssen, wie das ein beträchtlicher Teil der Anti-Covid-Bewegung tut, finde ich es aber nur noch halb so spannend.»
Die Propagandalüge von der «Corona-Diktatur»
Erklärungsbedürftig bleibe das Ganze jedoch trotzdem, schreibt Zürcher. Er habe nur Vermutungen, glaube aber, es seien zwei Dinge, die die Anti-Covid-Front befeuern würden. Beide hätten mit Politik im engeren Sinn relativ wenig zu tun:
«Zum einen ist es die Ideologie eines grenzenlosen Individualismus. Es gibt heute kaum ein konsensfähigeres Postulat als jenes für eine autonom bestimmte Lebensführung, die frei ist von allen Zwängen. Noch mehr ins Gewicht fällt aber, was der Soziologe Ulrich Beck einst die postreligiöse Theologisierung des Alltags nannte. Auf der Suche nach Sinn und Lebensinhalt wird alles bedeutend gemacht und bekommt, vor allem in einer Überflussgesellschaft, eine symbolische Dimension. Auch eine Impfung bleibt dann nicht nur eine banale Impfung. Bei der Entscheidung dafür oder dagegen wird über ganze Glaubens- und Gefühlssysteme verhandelt.»
Zum Ausdruck bringe die Haltung der Massnahmengegner aber vor allem auch die Widersprüche des spätmodernen Individualismus:
«Ich will machen, was ich will, aber die Verantwortung für die Folgen meines Handelns will ich nicht tragen.»
Quelle: Der Aufstand der Narzissten (NZZ am Sonntag, 31. Oktober 2021)
Ausserdem:
☛ Die angesprochene «manichäische Auseinandersetzung» ist ziemlich typisch für Verschwörungstheorien. Siehe dazu:
Manichäismus & Verschwörungstheorien
☛ Zum Gerede von der «Corona-Diktatur»:
Corona-Massnahmen: Das Gerede von «Diktatur» ebnet den Boden für Gewalt
☛ Wer bei uns von «Corona-Diktatur» fabuliert, soll sich mal die Situation in Belarus vor Augen führen.
☛ Die «Corona-Diktatur»-Unterstellungen kommen vor allem aus der Querdenker-Szene. Hier dazu mehr:
Querdenker und Verschwörungstheorien