Karl Schlögl ist ein renommierter Osteuropa-Historiker, der sich seit langem intensiv mit Russland und der Ukraine befasst. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Einmarsch russischer Truppen in die Ostukraine publizierte Karl Schlögel im Jahr 2015 das Buch «Entscheidung in Kiew». In einem kleineren Abschnitt geht Karl Schlögel darin auf die Strategien russischer Propaganda ein. In dieser Propagandastrategie spielen auch Verschwörungstheorien eine bedeutende Rolle.
Die beiden unterstehenden Zitate stammen aus diesem Buch von Karl Schlögel:
Karl Schlögel zum gefährdeten Unterschied zwischen facts and fiction
«Seit der Okkupation der Krim ist nicht nur die wie selbstverständlich daherkommende dreiste Lüge in die russischen Fernsehkanäle eingewandert, sondern überhaupt soll uns klargemacht werden, dass es einen Unterschied zwischen facts und fiction, zwischen Wahrheit und Lüge nicht mehr gibt. Putins Medienleute sind nicht nur mit dem Idiom der Postmoderne vertraut, sondern auch mit den Werten des heiligen Russland. Die Europäische Union mit ihren 28 Mitgliedern wird als heterogenes, zu geschlossener Aktion nicht fähiges Gebilde lächerlich gemacht, das nicht einmal stark genug sein soll, zu seinen eigenen Werten zu stehen und sich militärisch zur Wehr zu setzen.
In seiner Rede an die Nation hat sich Putin als der Verteidiger der wahren europäischen Werte in Szene gesetzt und sich zum Sprecher und Anführer einer neuen Internationale gemacht, die die deutsche Linke ebenso an Bord nimmt wie die nationalistische Rechte in Frankreich, die alle Kräfte zusammenführt, wenn sie nur genügend antieuropäisch und erst recht antiamerikanisch sind, die keine Scheu hat, antisemitische und neonazistische Figuren nach Moskau einzuladen, während auf den staatlichen Fernsehkanälen der Kampf gegen die ‘faschistische Junta’ in Kiew propagiert wird.» (S. 40)
Russische Propaganda demontiert schon seit längerem den Unterschied zwischen facts und fiction, zwischen Wahrheit und Lüge. Das geschieht insbesondere dadurch, dass zu einem bestimmten Vorgang oder Ereignis eine Vielzahl von Erklärungen verbreitet werden. In dieser widersprüchlichen Informationslage kommen Menschen oft zum Schluss, dass man garn nicht wissen könne, was stimmt. So kommt dann ein Autokrat wie Putin mit seinen Handlungsweisen durch.
Karl Schlögel weist hier auf die eigenartige Allianz sehr unterschiedlicher politischer Strömungen hin, die der Kreml schmiedet – zusammengehalten durch geteilten Antiamerikanismus und geteilter antieuropäische Haltung.
Propaganda und postmoderne Rhetorik
Postmoderne Theorien unterminieren den Wahrheitsbegriff und verwischen dadurch den Unterschied zwischen facts und fiction.
«Es geht längst nicht mehr um Propaganda und Gegenpropaganda, sondern um die Auseinandersetzung darum, ob es überhaupt noch eine Unterscheidung zwischen facts und fiction gibt. Fakten werden zu einer Frage der Interpretation, nach der Devise: Alles ist gelogen, alles ist gleich wahr. Die freche Lüge traut sich auf die amtliche Pressekonferenz, und selbst in der Diplomatie, wo es so etwas wie einen spezifischen Takt geben soll, darf ein altgedienter Profi wie Aussenminister Sergej Lawrow alle Hemmungen fallen lassen und in demagogischer Rhetorik vom ‘Genozid’ am russischen Volk’ in der Ukraine sprechen.
Die dreiste Lüge ist längst talkshowtauglich geworden. Oft gibt es keine Widerrede, sei es, weil niemand zur Stelle ist, der dem Lügner das Wort abschneidet, sei es, weil die Moderatoren des Diskurses unter Druck stehen und auf Äquidistanz achten müssen, der zufolge die Wahrheit nicht ermittelbar sei, sondern immer irgendwo in der Mitte liege. Der Diskurs geht weiter, während die Panzer rollen. Der information war, der sich virtuos der postmodernen Rhetorik von der Multiperspektivität bedient und alles relativ sieht, hat uns längst überrollt.
Offensichtlich haben die militärischen Frühwarnsysteme ebenso wie die intellektuellen versagt. Es gibt kaum angemessene Antworten auf die ebenso imperial wie völkisch instrumentalisierten Projekte der ‘russischen Welt’ (russkij mir) oder des Neo-Eurasianismus; es gibt kaum die Ansätze einer irgendwie organisierten Gegenwehr gegen die Armada von Trollen und Desinformationskampagnen gezielt eingesetzter sozialer Netzwerke; es fehlt an Sensibilität für die virtuosen Choreographien, nach der Allianzen von ganz rechts nach ganz links geschmiedet werden, kein Gefühl für die Instrumentalisierung der inneren Widersprüche, an denen ein so komplexes Gebilde wie die Europäische Union überreich ist und an denen sie zerbrechen kann.» (S. 74)
Gegenmassnahmen?
Wenn Karl Schlögel darauf hinweist, dass es noch kaum angemessene Antworten gibt auf den russischen «information war» und die «Armada von Trollen und Desinformationskampagnen», dann kann man das nur doppelt unterstreichen. Es gibt das EU-Projekt EUvsDisinfo, das Desinformation und Verschwörungstheorien der russischen Propaganda beobachtet und analysiert. Das ist aber nicht viel mehr als ein Tropfen auf einen heissen Stein. Da muss sehr klar mehr kommen, von Staates wegen und von der Zivilgesellschaft.
Quelle der Zitate:
Karl Schlögel: «Entscheidung in Kiew – Ukrainische Lektionen», Fischer Taschenbuch 2017.
Anmerkungen:
☛ Karl Schlögel (Jahrgang 1948) hat an der Feien Universität Berlin, in Moskau und St. Petersburg Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Bis 2013 war er Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.
☛ Zur Verbreitung prorussischer Verschwörungstheorien in Deutschland siehe:
Steigende Zustimmung für prorussische Verschwörungstheorien