Der Philosoph Michael Hampe beschreibt in seinem lesenswerten Buch «Die dritte Aufklärung» die anspruchsvolle Balance zwischen Vertrauen und Kritik:
«Die Aufforderung, auf selbstbewusste Weise kritisch zu sein gegenüber denen, die einem vermeintlich helfen und einen fördern wollen, gehört zu den Empfehlungen, die Aufklärer immer wieder an diejenigen richteten, die sich allzu leichtfertig in die Hände anderer begaben und ihrem Denken blauäugig folgten. Doch die Balance von Vertrauen und Kritik ist sensibel. Ein Übermass an Vertrauen ist so gefährlich wie ein Übermass an Kritik und Misstrauen. Wer alles glaubt, was ihm erzählt wird, läuft Gefahr, sein Leben von Aberglauben, Gerüchten und Wichtigtuern, die ungeprüfte ‘Theorien’ verbreiten, bestimmen lassen. Wer allem misstraut, verliert ebenfalls die Orientierung. Allein und auf sich gestellt, kann kein Mensch in unserer komplexen Welt eine verlässliche Orientierung entwickeln. Die unaufgeklärten Anhänger von Verschwörungstheorien sind oft beides zugleich: zu kritisch gegenüber etablierten Verfahren und Eliten der Wissensgenerierung und zu vertrauensvoll gegenüber ‘alternativen’ Quellen des vermeintlichen ‘Wissens’.» (Seite 24).
Verschwörungstheoretiker verteilen Vertrauen und Misstrauen höchst einseitig
Michael Hampe führt weiter aus:
«Durch die ‘anderen Seiten’ der Aufklärung – die technischen Möglichkeiten der Verbreitung von Lügen und Irrtümern in kürzester Zeit an Millionen von Menschen im Internet und die Allgegenwart einer auf Profitvergrösserung und Konkurrenzgewinne ausgerichteten Mentalität (auch in Politik und Wissenschaft) – ist die Balance gestört zwischen dem notwendigen Vertrauen, das Menschen füreinander aufzubringen haben, wenn sie ihre aufgeklärte Lebensform fortsetzen und gemeinsame Ziele verfolgen möchten, und dem kritischen Misstrauen, das sie entwickeln müssen, um nicht in Unterjochung und Ausbeutung zu geraten. Ein überbordendes Misstrauen gegenüber wohletablierten Wahrheitspraktiken hat das Vertrauen in mühsam erarbeitete Erkenntnisse unterminiert.
So werden heute wissenschaftliche Erkenntnisse nicht einfach nur kritisch hinterfragt, sondern Verschwörungstheorien und krude interpretierten religiösen Texten an die Seite gestellt. Tausende von Menschen glauben, dass die Mondlandung nicht stattgefunden hat, sondern eine Inszenierung war, dass die Erde in Wirklichkeit eine Scheibe und keine rotierende Kugel ist, dass die biblische Schöpfungsgeschichte ein Tatsachenbericht ist, den man mit der Darwin’schen Evolutionstheorie im Schulunterricht vergleichen kann. Wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Eliten wird misstraut und unterstellt, sie wollten nur täuschen und die Mehrheit für ihre Vorteile ausnutzen, wenn sie vermeintlich über etwas informieren. Man wittert überall Reklame, weil die Marktkonkurrenz universell ist. Das Interesse beliebiger Eliten sei nicht, allgemein relevante Wahrheiten ans Licht zu bringen und zu verbreiten und nützliche Dinge zu entwickeln, um das Leben aller zu verbessern, sondern immer ginge es lediglich darum, den eigenen Vorteil zu mehren.» (Seiten 30/31).
Quelle:
«Die dritte Aufklärung», von Michael Hampe, NP&I Verlag 2018
Anmerkung:
Die Balance zwischen Vertrauen und Kritik ist ein wichtiges Thema, gerade auch im Hinblick auf Verschwörungstheorien. Darüber hinaus ist es wichtig, zwischen toxischem Misstrauen und gesundem Misstrauen zu unterscheiden. Siehe dazu:
Über toxische Zweifel und toxisches Misstrauen