«Du musst dir halt deine eigene Meinung machen….» – Solche Sprüche hört man oft, wenn man Verschwörungsgläubigen mit Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Stellungnahmen von Fachleuten kommt. Für Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien ist das alles oft nichts wert. Stattdessen glauben sie blind irgendwelchen YouTube-Filmchen von TV-Köchen oder Instagram-Kanälen von Schlagersängern. Ganz offensichtlich unterschätzen sie aber auch, was es heisst, sich eigene Meinungen zu machen. Dafür gibt es ja keine einfache Bastelanleitung.
Voraussetzungen der Meinungsbildung
Der Philosoph Edward Craig hat zu den Voraussetzungen der Meinungsbildung ein paar bedenkenswerte Abschnitte geschrieben:
«Wie kommen wir zu Meinungen? Hauptsächlich mit Hilfe unserer Sinne und unseres Denkvermögens, insbesondere unserer Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen. Diesen Apparat hat jedes Individuum, und es wäre wohl im Prinzip möglich, mit diesem Minimum auszukommen. Es gibt jedoch zwei Faktoren, die uns zwingen, diese Basis zu erweitern.
Jedem Individuum ist es offensichtlich vorteilhaft, dass es nicht nur für sich selbst Meinungen bildet, sondern dass es auch an Meinungen teilnimmt, die andere Mitglieder seiner Gruppe erworben haben. Denn es wird häufig Handlungen ausführen wollen, deren Erfolg von Tatsachen abhängt, die ihm augenblicklich schwer zugänglich sind. Dann wird es gut sein, wenn es ein anderes Gruppenmitglied als Informanten gebrauchen kann.
Auch die Bedürfnisse der Gruppe zwingen das Individuum dazu, manchmal Meinungen von anderen zu übernehmen. Denn es gibt Handlungen, die am besten durch mehrere Individuen ausgeführt werden, auch solche, die nur durch mehrere Individuen auszuführen sind: die Abwehr von feindlichen Angriffen ist ein naheliegendes Beispiel. Dann wird es notwendig sein – um bei dem erwähnten Beispiel zu bleiben – dass alle Beteiligten wissen, wo sich der Feind versteckt hat. Die Gruppe kann aber unmöglich warten, bis jeder dies für sich selbst entschieden hat; es muss sich die Gewohnheit bilden, denjenigen, der den Feind gesehen hat, als Informanten zu behandeln, von ihm die gemeinsame Meinung zu übernehmen.
Unter Informanten gibt es nun gute und schlechte; sollen wir gedeihen, so müssen wir diese von jenen unterscheiden. Suche ich die Antwort auf eine gewisse Frage, dann gibt es Leute, auf deren Auskunft ich mich verlassen kann; und es gibt solche, auf die ich lieber nicht höre.»
Edward Craig stellt anschliessend die Frage in den Raum, was denn ein guter Informant und eine brauchbare Auskunftsquelle sei. Dazu mehr in den Links unten unter «Anmerkungen».
Niemand kann auf Meinungen anderer verzichten
Weshalb der Einbezug der Meinung anderer unverzichtbar ist, begründet Craig so:
«Niemand kann darauf verzichten, sich manchmal auf die Meinungen von anderen Mitgliedern seiner Gruppe zu verlassen, indem er sie als Informanten gebraucht. Macht er das nicht, so treffen ihn die Folgen sowohl direkt wie auch indirekt. Direkt, weil er so auf den Erwerb von Meinungen verzichtet, die ihm bei den eigenen Projekten behilflich, wenn nicht sogar unentbehrlich wären. Indirekt, weil er dann als Gruppenmitglied weniger brauchbar wird; und alles, was den Interessen der Gruppe schadet, schadet letztlich auch ihm. Auch wenn er nur durch Eigeninteresse bewegt wird, muss er also Informanten gebrauchen; ist in der menschlichen Natur auch noch eine Spur Altruismus vorhanden, so wird dieser Gedankengang noch zwingender.»
Meinungen beeinflussen Handlungen
Sorgfalt bei der Meinungsbildung ist unter anderem wichtig, weil Meinungen oft Handlungen beeinflussen. Edward Craig schreibt dazu:
«Wer handelt, braucht Meinungen, an denen sich sein Handeln orientieren kann. Ich will Honig auf mein Brot streichen. Dazu brauche ist sofort wenigstens drei Meinungen: dass das da Honig ist, dass mein Messer dort liegt, und hier eine Scheibe Brot. Vielleicht sind es nicht gerade diese Meinungen, vielleicht sind es Meinungen darüber, wo Honig, Brot und Messer am wahrscheinlichsten zu finden sind. Aber irgendwelche diesbezügliche Meinungen muss ich haben, sonst bin ich in der Lage eines Menschen, der etwas will, der aber nicht die geringste Ahnung hat, was er machen soll, damit der Erwerb des fraglichen Gegenstandes auch nur im mindesten wahrscheinlicher wird. Er handelt nicht – oder besser; in bezug auf dieses Ziel handelt er nicht.
Da wir zum Handeln Meinungen brauchen, haben wir ein Interesse daran, dass unsere Meinungen wahr sind. Damit will ich nicht sagen, dass wir an wahren Meinungen als solchen interessiert sein müssen, denn vielleicht ist es möglich, Meinungen zu haben, die unser Handeln nicht beeinflussen. Wo sie es aber beeinflussen (und da spricht man mit Sicherheit von der grossen Mehrheit, wenn nicht von allen), dort müssen wir wahre Meinungen falschen bevorzugen. Wer seine Handlungen an wahren Meinungen orientiert, hat viel bessere Erfolgschancen als der, der nach falschen Meinungen handelt.»
Quelle:
Was wir wissen können – Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff (Wittgenstein-Vorlesungen der Universität Bayreuth), Edward Craig, Suhrkamp Verlag 1993, Seiten 40 – 44.
Anmerkungen:
Ergänzend zum Thema:
☛ Selbstdenken – ein zwiespältiger Anspruch in Verschwörungstheorien
☛ Recherchieren zu Verschwörungstheorien
☛ In letzter Zeit sind zunehmend nicht nur Meinungen umstritten, sondern auch Fakten. Dazu hier ein ausführlicher Text:
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!
☛ Sich eine eigene Meinung zu bilden ist in vielen Fällen unverzichtbar. Doch kann dabei auf die Meinung anderer in der Regel nicht verzichtet werden. Dabei kommt es auf die Qualität der Informanten an. Der Spruch: «Du musst Dir halt deine eigene Meinung machen….», wie er von Anhängerinnen und Anhängern von Verschwörungstheorien gern verwendet wird, tönt daher viel einfacher, als es in der Realität der Fall ist. Es gibt eine Reihe von Einflüssen, die die Bildung einer eigenen Meinung erschweren. Beispiele dafür sind der Bestätigungsfehler und das Motivierte Denken.