Offenbar lässt sich alles, was das eigene Weltbild ankratzen könnte, als «Inszenierung» abtun und dem politischen Gegner in die Schuhe schieben.
Das Massaker von Butscha? Eine Inszenierung der ukrainischen Armee! Diese Verschwörungstheorie lenkt ab von den Kriegsverbrechen russischer Truppen.
Der Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School in Newton (USA)? Eine Inszenierung von Obama, gespielt von «Krisenschauspielern». Das lenkt ab von den laschen Waffengesetzen in den USA, die solche Taten begünstigen.
Mit dem Vorwurf der «Inszenierung» wird dem politischen oder militärischen Gegner besondere Perfidie unterstellt.
Natürlich kann das Vorliegen einer «Inszenierung» in gewissen Fällen nicht von vorneherein ausgeschlossen werden. Für solche Vorwürfe braucht es aber handfeste Hinweise, die sorgfältig geprüft werden müssen. Ausserdem muss das Gesamtbild betrachtet werden. Verschwörungsgläubige greifen in der Regel irgendeine Detailbeobachtung heraus, die sie nicht verstehen, oder die auch wirklich noch nicht geklärt ist (siehe: Rosinenpicken). Gleichzeitig blenden sie aber eine grosse Menge an Belegen aus, die für die Realität zum Beispiel des Massakers von Butscha oder des Amoklaufs an der Sandy Hook Elementary School sprechen.
Dass russische Truppen in der Ukraine in der Stadt Butscha und auch an anderen Orten massive Kriegsverbrechen begangen haben, dafür gibt es eine grosse Zahl von Belegen: Zum Beispiel aus Satellitenaufnahmen, Drohnenaufnahmen, Zeugenaussagen, Beobachtungen von Medienleuten und Menschenrechts-Organisationen, gerichtsmedizinische Untersuchungen. Ausserdem wurden über 1000 Leichen geborgen. In höchstem Mass unglaubwürdig, dass das alles nur eine Inszenierung sein soll.
Vorwurf der «Inszenierung» als Propagandatrick
Insbesondere die russische Propaganda nutzt den Vorwurf der «Inszenierung» gern als Propagandatrick. Das zeigte sich zum Beispiel auch schon beim Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ostukraine durch eine russische Luftabwehrrakete. Dort gipfelte der Vorwurf der «Inszenierung» in dreisten Behauptungen, im Flugzeug hätten gar keine lebenden Passagiere, sondern Leichen gesessen.
Dreist ist aber auch die Behauptung, der Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School in Newton (USA) sei eine Inszenierung gewesen. Verbreitet hat diese Propagandalüge der US-amerikanische Verschwörungsideologe und Hassprediger Alex Jones. Und dies obwohl das Attentat akribisch juristisch geklärt wurde. Zudem sind seit dem Tag des Attentats, dem 14. Dezember 2012, nun doch schon einige Jahre vergangen. An einer Inszenierung müssten sehr viele Menschen beteiligt gewesen sein. Kaum denkbar, dass nicht irgendeiner dieser angeblichen «Krisenschauspieler» inzwischen an die Öffentlichkeit gegangen wäre oder sich sonst wie verplappert hätte. Schon der Der italienische Staatsmann Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) hat als Regel vorgeschlagen:
„Vor der Entdeckung einer Verschwörung kann man sich nicht schützen, wenn die Anzahl der Mitwisser drei oder vier übersteigt.“
Für die Angehörigen der Opfer des Amoklaufs an der Sandy Hook Elementary School hatte die Propagandalüge von der «Inszenierung» im Übrigen dramatische Folgen. Sie wurden von Verschwörungsgläubigen massiv diffamiert und bedroht.
Die Schwangere von Mariupol
Massiv diffamiert und bedroht wurde auch die ukrainische Influencerin Marianna Vyshemirsky. Die hochschwangere Frau musste aus einer von russischen Truppen bombardierten Geburtsklinik fliehen. Ein Foto dieser Szene ging anschliessend um die Welt.
Die russische Propaganda behauptete daraufhin, die Schwangere sei eine Schauspielerin, einen Angriff habe es nie gegeben. Die Bilder seien eine Inszenierung der ukrainischen Armee. Die russische Regierung startete eine Desinformationskampagne und versuchte, die Glaubwürdigkeit der Ukrainerin zu untergraben. Die Kampagne war erfolgreich und Vyshemirsky wurde in sozialen Medien mit Hasskommentaren eingedeckt.
Nun hat Marianna Vyshemirsky der BBC ein Interview gegeben – und zwar im Beisein eines prorussischen Aktivisten. Gegenüber der Journalistin Marianne Spring sagt sie:
«Ich erhielt Drohungen, dass sie mich finden und töten würden, dass sie mein Kind in Stücke schneiden würden.»
Eine Inszenierung verneint sie.
Dass Bilder von ihr für Falschmeldungen benutzt wurden, beschämt sie. »Es war wirklich demütigend, denn ich habe das ja alles erlebt.«
Sie bestätigt auch, dass es einen Angriff gab: »Man konnte alles herumfliegen hören, Schrapnell und andere Sachen. Die Geräusche dröhnten noch lange in meinen Ohren.«
Quellen:
Gerettete Schwangere aus Mariupol: »Ich erhielt Drohungen, dass mein Kind in Stücke geschnitten würde« (Spiegel online)
Marianna Vyshemirsky: ‚My picture was used to spread lies about the war‘ (BBC)