Weshalb hilft Geschichtskompetenz gegen Verschwörungstheorien? Erstens weil sie klar macht, dass Geschichte nicht so planbar ist, wie es Verschwörungstheoretiker gerne voraussetzen. Zweitens weil ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Verschwörungstheorien sich in ähnlichen Formen ständig wiederholen. Es ist quasi die alte Leier, die sich immer wieder zeigt.
Zu diesen zwei Punkten in den folgenden Abschnitten mehr.
Geschichtskompetenz 1: Geschichte ist nicht planbar
Auf diesen Punkt weist vor allem der Amerikanist Michael Butter immer wieder hin, zum Beispiel in seinem Buch «Nichts ist, wie es scheint». Er schreibt dort (Seiten 40/41):
«Das vielleicht stärkste Argument gegen Verschwörungstheorien ist aber, dass diesen ein in den modernen Sozialwissenschaften mittlerweile radikal infrage gestelltes Menschen- und Geschichtsbild zugrunde liegt. Verschwörungstheorien basieren auf der Annahme, dass Menschen den Verlauf der Geschichte ihren Intentionen entsprechend lenken können, dass Geschichte also planbar ist. Sie schreiben den Verschwörern die Fähigkeit zu, über Jahre, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg die Geschicke eines Landes oder gar der Welt zu bestimmen.
Oft verstehen sie sogar die Geschichte an sich als eine Abfolge von Komplotten einer oder verschiedener Gruppen. Somit sehen sie die Welt radikal anders als die Psychologie, die Soziologie oder die Politikwissenschaft. Der Psychologie zufolge ist der Mensch nicht Herr seiner selbst, wie Sigmund Freund es prägnant formuliert hat; er weiss oft gar nicht genau, was er will und was nicht, und hat entsprechend Schwierigkeiten, seine Absichten in die Tat umzusetzen. Doch selbst wenn er es immer wüsste, könnte er es nicht, da soziale Systeme, wie Soziologie und Politikwissenschaft gezeigt haben, ein Eigenleben führen und Effekte generieren, die niemand intendiert hat.»
Besser lässt sich Geschichtskompetenz zum Thema Verschwörungstheorien wohl nicht zusammenfassen. Michael Butter illustriert diesen Punkt in einem Interview für den «Standard». Als Beispiel verweist er auf den Sturz des iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh in den 1950ern, bei dem die CIA eine bedeutende Rolle spielte. Das Beispiel zeigt laut Butter, dass Verschwörungen im weiteren Verlauf oft Folgen haben, mit denen die Verschwörer nicht gerechnet haben und die ihren Interessen manchmal auch entgegenlaufen. Mittelfristig begünstigte das «Engagement» der CIA beim Sturz Mossadeghs im Iran die Islamische Revolution durch Ajatollah Chomeini (1979), die sicher nicht im Interesse der USA war.
Damit Verschwörungstheoretiker trotz vieler Gegenbeispielen daran festhalten können, dass geschichtliche, politisch und ökonomische Prozesse sich durch eine Einzelperson oder eine Gruppe von Verschwörern geplant, im Griff behalten und wie vorgesehen umgesetzt werden können, müssen sie eine ganze Reihe von Einflüssen ausblenden: Zufälle, Dummheit, Unfähigkeit, Irrtum und Verrat darf es nicht geben. Sie würden die Pläne der Verschwörer gehörig durcheinanderbringen.
– Zufälle darf es für Verschwörungstheorien nicht geben, deshalb werden sie negiert. Siehe dazu: Kontingenzbewältigung / Zufalls-Verleugnung
– Dummheit, Schlamperei, Inkompetenz, Fehleinschätzung oder Irrtum darf es für Verschwörungstheorien zur Erklärung von Fehlverhalten nicht geben, weil Verschwörungstheorien von Bösartigkeit ausgehen. Siehe dazu: Hanlon’s Rasiermesser / Hanlon’s Razor
– Verrat, Wistleblowing und simples Verplappern darf es für Verschwörungstheorien nicht geben, denn reale Verschwörungen scheitern oft gerade daran. Das wusste schon Niccolò Machiavelli, als er schrieb: «Das einzige Mittel, der Entdeckung zu entgehen, ist es, den Mitverschwörern keine Zeit zu lassen, das Komplott zu verraten.»
Das sind einige der Gründe, weshalb Geschichte nicht planbar ist. Zur Geschichtskompetenz können im Hinblick auf dieses Thema auch Gedanken des amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859 – 1952) beitragen. Er beschreibt, dass die Geschichte von Ereignissen geprägt ist, die weder berechenbar noch planbar sind und die von den beteiligten Personen oft auch gar nicht so gewollt waren. Gleichzeitig sind historische Prozesse aber auch nicht einfach das Resultat von Zufällen. Vielmehr entwickeln sie sich aus einer Mischung dieser Einflüsse: den vorgegebenen, berechenbaren Gesetzmässigkeiten, den Absichten und Plänen von Menschen, und den Widerfahrnissen des Zufalls. Sie werden aber auch mitgestaltet durch das, was Menschen gemeinsam tun, sei es bewusst oder unbewusst.
John Dewey schreibt:
«Die Welt, in der wir leben, ist eine eindrucksvolle und unwiderstehliche Mischung aus Fülle, Vollständigkeit, Ordnung und Wiederholungen, die Voraussage und Kontrolle ermöglichen, und Einzigartigkeiten, Mehrdeutigkeiten, ungewissen Möglichkeiten und Prozessen, die zu Ergebnissen führen, die noch ungewiss sind.»
John Dewey betont die Tatsache, «dass die Evidenz der empirischen Dinge das Unsichere, Unvoraussagbare, Unbeherrschbare und Zufällige einschliesst.»
Geschichtskompetenz 2: Die alte Leier
Geschichtskompetenz kann auch dabei helfen zu erkennen, dass Verschwörungstheorien immer wieder die alte Leier bringen. Über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte sind die gleichen Elemente zu sehen: Radikale Polarisierung und dualistische Spaltung der Welt in Gut und Böse, Schaffung von Sündenböcken und Bewirtschaftung von Feindbildern. Während diese Grundelemente bleiben, wechseln zum Teil die Inhalte. So entstehen beispielsweise zu jeder grösseren Epidemie oder Pandemie Verschwörungstheorien unterschiedlicher Art. Das zeigte sich sowohl bei der Corona-Pandemie wie auch am Ende des Ersten Weltkriegs bei der «Spanischen Grippe»
Entscheidend sind dabei nicht die infektiologischen Fakten, sondern die jeweiligen Feindbilder der Verschwörungstheoretiker.
Auch die alte antijüdische Ritualmordlegende taucht plötzlich wieder auf in der QAnon-Verschwörungsideologie. Sie zeigt sich dort einfach in anderem Gewand. Qanon-Anhängerinnen und -anhänger glauben an die abstruse Vorstellung, dass liberale Eliten in Bunkern und Höhlen Kinder gefangen halten und foltern, um ihnen Blut abzuzapfen zur Gewinnung des angeblichen Verjüngungsmittels Adrenochrom.
Auch die absolute Verteufelung von Einzelpersonen, denen für alles Böse auf der Welt die Schuld in die Schuhe geschoben wird, hat uralte Wurzeln. Schliesslich ist der Teufel so etwas wie die Urform einer Verschwörungstheorie. Und was da mit den neuen Sündenböcken wie Bill Gates und George Soros geschieht, sieht nahezu aus wie eine säkulare Dämonologie.
Zur Vorbeugung gegen Verschwörungstheorien kann es also wohl nicht genug Geschichtskompetenz geben. Es wäre sinnvoll sich Gedanken zu machen, wie diese Geschichtskompetenz besser in der Bevölkerung zu verbreiten ist.
Quellen:
Verschwörungstheorien: Was hilft? (Der Standard)
Nicht ist wie es scheint, von Michael Butter
Erfahrung und Natur, John Dewey, Suhrkamp Taschenbuch 1995, Seiten 56, 57, 61