In der Corona-Pandemie nutzen rechtsextreme Netzwerke und Verschwörungstheoretiker-Gruppen Unsicherheiten und Ängste, um mit Desinformationskampagnen in sozialen Medien gezielt neue Mitglieder zu gewinnen. Laut der Extremismusforscherin Julia Ebner lässt sich gegen den auf Politik, Wissenschaft, Minderheiten oder Technologien gerichteten Hass insbesondere mit digitaler Bildung und Zivilcourage ankommen. Doch müssten auch die großen Social-Media-Plattformen mitspielen.
Globale „Infodemie“
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in der Corona-Pandemie vor einer globalen „Infodemie“ gewarnt, die Vereinten Nationen vor einem „Tsunami des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit.“ Diese Befürchtungen sind eingetroffen.
Weltweit organisiert sich eine obskure Koalition aus Impfgegnern, Rechtsextremen, Reichsbürgern, Verschwörungstheoretikern und besorgten Bürgern im Internet und bringt ihren Protest gegen Corona-Maßnahmen wie Lockdowns und Impfungen auf die Strasse.
Diese Gruppierungen sind ideologisch zum Teil sehr verschieden. Der Radikalisierungsprozess neuer Mitglieder folgt aber immer einem bestimmten Muster, erklärte Julia Ebner an einem Online-Vortrag zum Thema „Das neue Zeitalter der Desinformation und Radikalisierung„, der vom Institute of Science and Technology (IST) Austria veranstaltetet wurde. Die Extremismusforscherin Julia Ebner ist am Londoner Institute for Strategic Dialogue tätig.
„Es startet immer mit der Rekrutierung in die extremistische Gruppe, aber dann kommt als wichtiger nächster Schritt der Prozess der Sozialisierung“, erklärte Julia Ebner. Sie weist darauf hin, dass die ideologische Indoktrinierung in diesen Gruppen oft nur in Nebenprodukt des noch wichtigeren Soziallebens ist.
Für ihr Buch «Radikalisierungsmaschinen» infiltrierte Julia Ebner online viele extremistische Bewegungen – Dschihadisten, Neonazis, Frauenhasser und Verschwörungstheoretiker. Das Buch wurde als „Wissenschaftsbuch des Jahres 2020“ ausgezeichnet.
Ursachen für den Zulauf zu Verschwörungstheoretiker-Gruppen
Julia Ebner erklärt den Zulauf zu Verschwörungstheoretiker-Gruppen unter anderem damit, dass bestehende Informationslücken gefüllt werden wollen, die hauptsächlich am Anfang einer Krise bestehen. Dazu kommen noch Gefühle von Einsamkeit, Langeweile, Machtlosigkeit, Aussichtslosigkeit und ein Mangel an Perspektiven. Verschwörungstheoretiker-Gruppen bieten Kompensation für solche Zustände. Sie schaffen das, indem sie ein Gefühl von Zugehörigkeit und familiärer Bindung bieten und Sündenböcke erzeugen, die vermeintlich an der Krise schuld sind.
Die kruden Verschwörungsgeschichten zielen auf ganz unterschiedliche Gegner: Minderheiten wie Migranten oder Juden, staatliche Akteure wie China, Vertreter der „Elite“ wie Bill Gates oder George Soros, das „Establishment“ wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO), große Pharmafirmen oder neue Technologien wie den Mobilfunkstandard 5G.
Übergriffe auf asiatische Minderheiten oder die Sprengung von 5G-Masten zeigen, dass sich die so aufgeschaukelten Proteste nicht auf das Internet beschränken.
Eine charakteristische Grundlage von Verschwörungstheorien – insbesondere vorangetrieben zum Beispiel vom Netzwerk „QAnon“ – ist es, dass im Geheimen versucht werde, Kontrolle über die Bevölkerung zu bekommen: „Es gibt die Theorie, dass Bill Gates uns allen durch die Vakzine Mikrochips implantieren will, um die Weltbevölkerung zu überwachen“, erklärt Julia Ebner und weist damit auf eines der bekanntesten Beispiele.
Online-Ökosysteme verbreiten Verschwörungstheorien
Für die Verbreitung von Verschwörungstheorien braucht es ein entsprechendes Online-Ökosystem. Julia Ebner sieht ein Hauptproblem in den großen sozialen Netzwerken. Obwohl Twitter und Facebook inzwischen härter gegen Gewaltaufrufe und Verschwörungstheorien einschreiten und sich rechtsextreme Gruppen zunehmend über eigens kreierte Plattformen organisieren, geschehe die Koordination von Protesten häufig noch immer über die reichweitenstärkeren etablierten Social Media-Kanäle. Und deren Businessmodell gründe nun einmal darauf, die menschliche Aufmerksamkeit an sich zu reißen. Wegen ihrer reisserischen Inhalte befänden sich Extremisten deshalb in den Social-Media-Kanälen in einer besseren Ausgangsposition.
In ihrer Forschungsarbeit kooperiert Julia Ebner allerdings dennoch mit Facebook und Co., um zum Beispiel anonymisiert den Dialog mit Menschen zu suchen, die Desinformationskampagnen in Gang setzen. Zwar gebe es bei diesen Versuchen der Deradikalisierung erste Erfolge, doch zur Vorbeugung weiterer Eskalationen, Gewalt und Falschinformationen brauche es eine weitreichende Kombination aus digitaler Bildung und Zivilcourage.
Julia Ebner: „Verschwörungstheorien werden andauern“
Die Extremismusforscherin glaubt nicht, dass Verschwörungstheorien, die von den Ängsten und Unsicherheiten in Krisenzeiten profitieren, mit dem Ende der Corona-Pandemie wieder verschwinden: „Corona ist auch eine wirtschaftliche Krise. Die Verschwörungstheorien werden andauern, und Politiker weiterhin beschuldigt werden.“
Quelle:
„Infodemie“: Verschwörungstheorien im Netz nehmen zu (vienna)
Anmerkungen zu den Büchern von Julia Ebner:
☛ Im Buch «Radikalisierungsmaschinen» zeigt Julia Ebner, dass Rechtsextreme und Islamisten die selben Strategien verfolgen und sich in die Hände spielen. Dadurch wird das Gemeinsame der verschiedenen Varianten des Extremismus sichtbar. Hier eine detaillierte Buchbesprechung:
☛ Im Buch «Wut» geht Julia Ebner den Ursachen der wechselseitigen Radikalisierung auf den Grund und zeigt, wie Extremisten Angst, Verunsicherung und Wut instrumentalisieren. Hier eine detaillierte Buchbesprechung: