Verschwörungstheorien sind kein neuer Trend – sie erfahren in dem seit Monaten andauernden Ausnahmezustand, den die Corona-Pandemie mit sich brachte, nur mehr Aufmerksamkeit und mehr Verbreitung.
FOCUS Online hat fünf Experten befragt, weshalb Verschwörungstheoretiker genau jetzt so viele neue Anhänger finden, wie man ihnen entgegnen kann und welche Rolle Politik und Bildungssystem spielen, um Verschwörungstheorien in Zukunft weniger Nährboden zu bieten.
Was tun gegen Verschwörungstheorien?
Nachfolgend ein paar Kernpunkte aus vier der fünf Stellungnahmen.
(1) Michael Bröning, Politik- und Sozialwissenschaftler,
Mitglied der SPD-Grundwertekommission und Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung:
Die psychologische Forschung zeige, dass Verschwörungstheorien mit reinen Aufklärungskampagnen kaum beizukommen ist, schreibt Brönig. Der Nachweis von Nicht-Existenz sei eben logisch unmöglich. Entscheidend sei vielmehr das kritische Hinterfragen. Spott hält der Politikwissenschaftler im Umgang mit Verschwörungstheorien dagegen für nicht hilfreich. Auch kritisches Teilen von Inhalten etwa in sozialen Netzwerken vergrößere schlussendlich nur das Echo. Und das Naserümpfen über vermeintliche Aluhutträger erhärte verquere Weltbilder eher als dass es sie erschüttere.
Gerade in Zeiten von Corona müsse es in der Bekämpfung von Verschwörungstheorien nicht um Symptome, sondern um Ursachen gehen.
Verschwörungstheorien kommen immer dann verstärkt auf, wenn eine Krise auf erschüttertes Vertrauen trifft. Eine wirksame politische Antwort muss deshalb umfassend das Sicherheitsempfinden der Menschen stärken, politische Transparenz fördern auch durch Erklärung der Unwägbarkeiten und wirkliche demokratische Mitbestimmung ermöglichen. Dann bleibt die Wahrheit stark, schliesst Brönig.
(2) Ulrike Ackermann,
Freiheitsforscherin und Gründerin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung:
Ulrike Ackermann schreibt, dass Verschwörungstheorien besonders gut gedeihen in Zeiten der Unsicherheit und vermeintliche Gewissheiten liefern wollen. Und dies, obwohl es keine geben könne. Verschwörungstheorien «wollen einen Bösewicht für alles Unheil ausdeuten».
Man müsse sie rational zerpflücken und widerlegen, obwohl sie absurd und irrational sind. Und das «in einer offenen Debatte, die auch krude Standpunkte zulässt und nicht moralisierend ausschließt». Es gebe keine alternativen Fakten, aber alternative Meinungen, hält Ackermann fest. Die Fähigkeit zum Diskurs und zivilisierten Streitmuss müsse wieder gelernt werden, schon in der Schule und später in Ausbildung und Hochschule. Erst damit entwickle sich die Fähigkeit zu Urteilskraft, Differenzkompetenz und Ambivalenztoleranz.
Diese Kompetenzen zukünftiger Leistungsträger seien wichtige Elemente, um soziale Spannungen, gesellschaftliche Konflikte und Krisen zu erkennen und neuen Herausforderungen gewachsen zu sein. Es sei ein maßgeblicher Beitrag, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.
(3) Gerald Hüther, Hirnforscher:
Hüther schreibt, dass unser Gehirn nach Erklärungen sucht – und wir uns wohler fühlen, wenn wir welche finden, auch wenn andere uns dann für hirnrissig halten.
Sinnvoll und gezielt handeln könne kein Mensch, solange die Ursache seiner Angst für ihn diffus und verschwommen bleibe. «Was dann hilft, ist eine möglichst einleuchtende und deshalb auch möglichst einfache Erklärung dafür, woher diese Angst kommt und wer für das Zustandekommen dieser bedrohlichen Situation verantwortlich ist.»
Auf der Suche nach einem solchen Verursacher finden manche Menschen dann eben irgendwelche Vorstellungen, die ihnen helfen, das Unerklärliche endlich zu erklären. Dann glauben Menschen daran, dass ihr Partner sie betrügt, dass jemand Gerüchte über sie verbreitet oder dass dunkle Mächte oder clevere Strippenzieher im Geheimen ihre bösen Absichten verfolgen.
Denn wer zu wissen glaubt, woher die Gefahr kommt, kann immerhin versuchen, etwas zu tun, um sie abzuwenden.
So werde die Angst konkret fassbar, und das sei allemal besser als ahnungslos und voller Angst noch länger umherzuirren.
(4) Thomas Loew, Psychiater, Psychotherapeut:
Für das Verarbeiten einer Krise sei es wichtig, aus der Vergangenheit zu lernen und die Zukunft zu planen. Dabei helfe uns unser Gedächtnis, das unter Stress schlechter funktioniert, insbesondere wenn es keine vergleichbare Situation gibt, auf die wir zurückgreifen können.
Genau aus diesem Grund erzählen Menschen seit tausenden von Jahren Geschichten, schaffen Filme etc., um auf schon erlebtes oder durchdachtes zurückgreifen zu können.
Falls das nicht ausreiche, greife der nächste Notfallmechanismus: «Wir aktivieren unsere biochemische Basis von Erfindergeist und Phantasie, das Dopamin-System. Letztlich ist das die biologische Basis von Religion und Idealen, schafft für viele das Gefühl von Sinn, Sicherheit und Beherrschbarkeit der Zukunft, neben den Erfindungen und guten Ideen, für die Dopaminaktivität die Grundlage ist.»
Genie und Wahnsinn liegen bekanntermassen nahe beieinander, schreibt Thomas Loew. Das sei letztlich der neurowissenschaftliche Hintergrund von Verschwörungstheorien. Menschen suchen nach Erklärungen: «Wo die reale Welt keine Erklärungen bietet, wird eben eine kreiert.»
Finde sich dann eine Gruppe, die über diese Theorien ein Gemeinschaftsgefühl entwickle, entwickle sich quasi als Nebeneffekt soziale Verankerung und Gemeinschaftsgefühl. Damit werde das überlebenswichtige körpereigene System „Fördern sozialer Beziehungen“ aktiviert.
Loew empfiehlt, diese Prozesse transparent zu machen, darüber aufzuklären und gleichzeitig dafür sorgen, dass Menschen in sozialen Gemeinschaften eingebunden sind und sich existentiell sicher fühlen können. Dann – schlussfolgert er – werden Verschwörungstheorien kein Land gewinnen können.
Loew schreibt, dass diese Aufgaben Schulen erfüllen können und sollen:
«Diese Aufgaben können und sollen Schulen erfüllen: Sie können stabile soziale Netzwerke sein, Kinder und Jugendliche sollten mehr darin gefördert werden, sich wechselseitig zu unterstützen, als in Konkurrenz zu gehen. Sorgen wir also dafür, dass möglichst viele Menschen schlau und sozial kompetent werden, dann werden die Verschwörungstheorien nur noch eine kleine Minderheit interessieren.»
Quelle:
Fünf Experten erklären, wie wir Verschwörungstheorien den Boden entziehen (focus)
Anmerkungen:
Zu (1)
Brönig fordert eine wirksame politische Antwort auf Verschwörungstheorien:
☛ Das Sicherheitsbedürfnis stärken.
Weil Unsicherheit die Suche nach einfachen Erklärungen und nach Sündenböcken fördert, trägt sie zweifellos zur Entstehung von Verschwörungstheorien bei. Die komplexe Frage wäre dann, wie Sicherheit am besten zu fördern ist.
☛ Politische Transparenz fördern.
Intransparenz kann die Entstehung von Verschwörungstheorien wohl fördern. Wenn beispielsweise nach aussen unerkennbar ist, was in einer Gruppe geschieht, kann das Fantasien und Projektionen begünstigen. Darauf bauen Verschwörungstheorien gerne auf. So begrüssenswert in vielen Bereichen Transparenz auch ist, eine Versicherung gegen Verschwörungstheorien bietet sie wohl nicht. Seitenweise publizierte Protokolle zum Beispiel bieten Verschwörungstheoretikern auch reichlich Material für ihre Suche nach Anomalien und für die Konstruktion von Zusammenhängen und Mustern. Sie werden sozusagen immer fündig.
Politische Transparenz hat im Übrigen nicht nur Vorteile. Sie kann auch Nachteile mit sich bringen. Siehe dazu auf Wikipedia.
☛ Unwägbarkeiten erklären.
Das mag oft günstig wirken, doch braucht es dazu auch Zuhörende, die mit der Unwägbarkeit umgehen können.
☛ Wirkliche demokratische Mitbestimmung ermöglichen.
Das dürfte wirksam sein gegen die Entstehung von Verschwörungstheorien. Auch hier stellt sich die Frage, wie das am besten geschehen kann. Und es ist ein «Bohren von dicken Brettern», das heisst eine langfristige Aufgabe, die Geduld und Ausdauer braucht.
Zu (2)
Argumente und eine offene Debatte sind wichtig. Allerdings sind Menschen, die schon stark in Verschwörungserzählungen stecken, für Argumente kaum noch erreichbar. Aber wer geübt ist im Umgang mit Argumenten und offene Debatten kennenglernt hat, dürfte wohl weniger anfällig sein für Verschwörungsgläubige.
Zu (3)
Es ist zwar sinnvoll zu verstehen, wie Verschwörungserzählungen im Gehirn zustande kommen. Eine Strategie, wie damit umzugehen ist, wird daraus aber noch nicht so ganz klar.
Zu (4)
Eine gesunde, konstruktive Einbettung der Menschen in soziale Gemeinschaften dürfte schon einen gewissen Schutz bieten vor destruktiven Einbettungsformen, wie sie Sekten und Verschwörungsideologien bieten. Nur läuft der Trend mit zunehmender Individualisierung und Vereinzelung eher in die gegenteilige Richtung.
Dass sich stabile soziale Netzwerke in der Schule aufbauen lassen, ist sehr wünschenswert. Genauso wichtig ist die Vermittlung von Medienkompetenz, nicht nur für Kinder und Jugendliche, auch für Erwachsene.
Ausserdem zum Thema „Verschwörungstheorien“:
Wichtig wäre auch Aufklärung über die Entstehung und die destruktiven Folgen von Feindbildern oder Sündenböcken.
Ausserdem die Förderung von Ambiguitätstoleranz:
Demokratie braucht Ambiguitätstoleranz – Verschwörungstheorien meiden sie