Aus Sicht der Psychologie entspringt der Glaube an Verschwörungstheorien universalen psychologischen Mustern, die im Verlauf der Evolution entstanden sind. Diese tragen wir alle in uns, doch nicht jeder Mensch neigt in gleichem Maß dazu, sie auch zu nutzen. Zwei der wichtigen evolutionär entstandenen Muster sind:
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Die Neigung, sich die Welt zu erklären durch Suche nach Mustern und Zusammenhängen
Das ist manchmal ein schwieriges Unterfangen. Deshalb kann es passieren, dass wir Zusammenhänge sehen, wo in Wirklichkeit keine sind. Menschen, die an Verschwörungsvorstellungen glauben, halten häufig unbewiesene Erklärungen und Zusammenhänge für plausibel. Ein Beispiel dafür ist die Annahme, dass ein Krankheitserreger wie das HI-Virus oder SARS-CoV-2 nicht ein Teil der Natur ist, sondern menschengemacht.
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Die Suche nach verborgenen Motiven anderen Menschen
Ein ausgeprägtes Bedürfnis danach hat zur Folge, dass Zufälle und komplexe Entwicklungen nicht als Erklärung akzeptiert werden können. Stattdessen wird ein bösartiges Motiv unterstellt. Die Klimaerwärmung, heisst es dann beispielsweise, ist eine Erfindung der Chinesen, um der US-Wirtschaft zu schaden. Damit wird die Situation übersichtlicher und berechenbarer. Ein Akteur mit einem klaren, bösartigen Motiv bietet scheinbar eine Komplexitätsreduktion und eine Kontingenzverminderung.
Die soziale Dimension von Verschwörungstheorien
Diese beiden evolutionären Grundmuster allein machen allerdings noch keine vollständige Verschwörungstheorie aus. Solche Vorstellungen haben eine soziale Dimension und handeln von Gruppenkonflikten. Sie erzählen von nicht näher benannten feindlichen Bündnissen, die beispielsweise Regierungen, politische Parteien oder Unternehmen heimlich miteinander eingegangen seien. Es existierten aber auch Verschwörungstheorien, bei denen Minderheiten – angeblich mächtige Koalitionen – als Verschwörer gelten. Genau beschrieben werden sie selten, sondern nur angedeutet. Auch hier existiert ein evolutionärer Hintergrund: In der frühen Menschheitsgeschichte war es in manchen Situationen überlebenswichtig zu wissen, ob sich Feinde gegen die eigene Gruppe zusammengeschlossen hatten. Für das Überleben dürfte es besser gewesen sein, einmal zu viel eine feindliche Konspiration zu wittern als einmal zu wenig. Vor allem in Konfliktsituationen neigen Menschen deshalb dazu, im gegnerischen Lager auch dort Koalitionen und Verschwörungen zu unterstellen, wo gar keine vorhanden sind.
Misstrauen und Angst als Zutaten für Verschwörungstheorien
Damit Menschen an Verschwörungstheorien glauben, müssen jedoch zu den evolutionären Mustern spezielle Persönlichkeitsmerkmale hinzukommen: starkes Misstrauen, soziale Angst sowie die Neigung zu verzerrtem Wahrnehmen. Auch glauben die Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien oft, die Welt sei prinzipiell sehr gefährlich. Und häufig schätzten sie sinnfreie Sachverhalte wegen ihrer Neigung zu verzerrtem Denken als bedeutsam ein.
Quelle:
Geheime Koalitionen, von Susanne Ackermann (Psychologie heute, 9. Januar 2019)
Auch der Psychologe Sebastian Bartoschek beschreibt den Verschwörungsglauben als Resultat eines evolutionären Schutzmechanismus. Die Stärke der menschlichen Spezies liege nicht im physiologischen Bereich. Der Mensch könne nicht besonders gut riechen, sehen, schwimmen oder klettern:
«Seine Stärke ist sein Gehirn. Es ermöglicht dem Menschen mittelbar komplexe Kommunikation, d. h. nicht nur über Dinge zu sprechen, sondern auch darüber, dass Menschen über Dinge sprechen. Und – entscheidend für den Verschwörungsglauben – es ermöglicht ihm das Entdecken von Zusammenhängen, Mustern und Strukturen. In der Frühgeschichte der Menschheit spielte die Fähigkeit, Muster in der Umwelt zu identifizieren, eine grosse Rolle, diente sie doch dem Erkennen von Zyklen der Natur z. B. Ebbe und Flut oder den Jahreszeiten.
Das Auffinden von Mustern half, Gefahren zu minimieren und vorherzusehen. Dem Donnergrollen folgte der Blitz, dem Rascheln im Gebüsch mitunter der Säbelzahntiger. Auch wenn nicht immer dem Rascheln der Tiger folgte, zeigte es sich als evolutionär bessere Strategie, lieber einmal zu oft auszuweichen, obwohl dem Rascheln nur ein wildes Huhn folgte, als einmal zu wenig auf der Hut zu sein, und dies den letzten Fehler vor der Weitergabe der eigenen Gene sein zu lassen. Sprich: Die evolutionär stabilere Strategie für den Menschen ist es, häufiger Muster zu sehen bzw. Gefahren zu erwarten als objektiv vorhanden. Oder anders: Wir sind die Nachfahren derjenigen Ahnenväter und -mütter, die eher dazu neigten, übervorsichtig zu sein.»
Und wie wirkt sich das nun auf den Verschwörungsglauben aus?
Sebastian Bartoschek:
«Der Mensch als Spezies durchlief also eine evolutionäre Entwicklung, die ihn zum eigenen Schutz befähigte, seine Umwelt durch Muster zu strukturieren. Dieses Verhalten macht ihn aber auch anfällig für den Glauben an vermeintliche Verschwörungen: Auf der Suche nach einem ordnenden Prinzip der teils chaotischen Umwelt werden manchmal sogar dort Muster ausgemacht, wo keine sind. Diese Sensibilität gegenüber einer möglichen Verschwörung stellt im Ernstfall einen sinnvollen Schutzmechanismus dar. Weitere allgemeine psychologische Effekte begünstigen, dass ein Mensch einer Idee, einer Ideologie, einer Religion, einer Meinung oder eben einer Verschwörungstheorie anhängt.»
Quelle:
Der Mensch ist ein Verschwörungswesen: Psychologische Determinanten des Glaubens an Verschwörungstheorien, von Sebastian Bartoschek,
in: Verschwörungstheorien früher und heute, LWL-Landesmuseum 2019
Die evolutionären Grundlagen des Verschwörungsglaubens zeigen sich auch darin, dass fast zu jedem einschneidenden öffentlichen Ereignis im Nu Verschwörungstheorien lanciert werden. Und zwar oft sich widersprechende Verschwörungstheorien, die perfekt zu den Feindbildern der «Produzenten» passen. So tauchen im Iran Verschwörungstheorien auf, die Israel für das Coronavirus verantwortlich machen. In China machen sie die USA für den Ausbruch verantwortlich, in China die USA…
Das zeigt: Der Inhalt der verschiedenen Verschwörungstheorien hat nicht mit der Realität zu tun, sondern mit den Feindbildern ihrer Erzeuger und Verbreiter.
Festgehalten muss aber auch, dass ein gewisses Mass an gesundem Misstrauen durchaus adäquat ist, gibt es doch auch reale Verschwörungen. Beispiele aus der Gegenwart sind der Abgasskandal (durch Autohersteller manipulierte Abgaswerte) und das Bündner Baukartell (geheime Preisabsprachen im Baugewerbe). Diese beiden Beispiele zeigen aber auch, dass solche Verschwörungen in der Regel irgendwann auffliegen. Über Verschwörungen und ihre Grenzen hat schon Niccolò Machiavelli Kluges gesagt. Angesichts der Möglichkeit realer Verschwörungen ist die Unterscheidung zwischen gesundem Misstrauen, gesundem Zweifel einerseits, und toxischem Misstrauen bzw. toxischem Zweifel andererseits zentral.
Siehe dazu: