Fachleute sehen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Verschwörungstheorien und Evangelikalismus, also evangelikalen Denkmustern.
So zum Beispiel der Religionssoziologe Detlef Pollak vom Exzellenzcluster Religion und Politik an der Uni Münster. Als strukturelle Analogien zwischen Verschwörungstheorien sowie pietistischen und evangelikalen Denkmustern nennt er die Skepsis gegenüber staatlichen Autoritäten, mangelnde Bereitschaft zur Selbstrelativierung und zur Akzeptanz des pluralistischen Diskurses sowie die Vermutung, hinter jeglichem Geschehen stünden unbekannte Mächte oder ein verborgener Sinn.
Das soll jedoch laut Detlef Pollak nicht dazu verführen, Verschwörungsglauben und Evangelikalismus gleichzusetzen: «Evangelikale akzeptieren eine von ihnen unabhängige Grundlage der Erkenntnis, sei es die Heilige Schrift oder eine von Gott gegebene Erleuchtung. Verschwörungstheoretiker hingegen neigen dazu, sich in ihren fantastischen Denkgebäuden zu verschanzen.»
Der Weltanschauungs- und Sektenbeauftragte der hannoverschen Landeskirche, Pastor Jürgen Schnare, sieht «im evangelikalen Milieu einen substanziellen Bodensatz an Fundamentalisten, die sich mit rückwärtsgewandten Teilen der Gesellschaft verbinden.»
Im evangelikalen und freikirchlichen Lager gebe es Menschen, die auf einer wortwörtlichen Auslegung der Bibel bestünden, erläutert Schnare.
Evangelikalismus neigt zur Vorstellung vom Endzeitkampf zwischen Gut und Böse
Diese Menschen bezögen sich dabei besonders auf das letzte Buch der Bibel, die Apokalypse oder Offenbarung des Johannes. In dieser Schrift werde ein Endzeitkampf zwischen Gott und dem Teufel, also zwischen Gut und Böse, beschrieben:
«Diese Fundamentalisten sind davon überzeugt, dass sich die Welt gerade jetzt in diesem Zeitalter befindet.» Ihrem Verständnis nach kann nur die absolute Treue zu Gott Schutz bieten.
Dadurch wachse die Überzeugung, dass alle anderen, inklusive der Mediziner und Regierungen, „dämonischen Mächten“ unterliegen. Und Verschwörungstheoretiker sehen dazu überall Beweise.
Zufälligkeiten werden für die Fundamentalisten zu scheinbaren Beweisen. Selbst der Umstand, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Berlin in der Nähe des Pergamon-Museums wohnt, werde zum Beleg dafür, dass sie teuflischen Kräften diene, sagt Schnare. Denn in der Antike sei der Pergamon-Tempel, der heute in dem Berliner Museum steht, auch als „Thron Satans“ bezeichnet worden. Das reicht dann schon als Beweis.
Für wirklich problematisch hält Jürgen Schnare jedoch das Schwarz-Weiß-Denken. Nicht selten leiteten diese Menschen auch ein nach ihrer Weltanschauung passendes Familienbild aus der Bibel ab.
Diese Mischung könne eine bedenkliche Nähe zu völkischem und rechtextremem Gedankengut schaffen, erklärt Schnare.
Auch der Theologe und Fundamentalismus-Experte Christoph Urban macht sich Gedanken dazu, warum bestimmte Christen anfällig für Verschwörungstheorien sind. Beispielhaft nennt er evangelikale Bewegungen in den USA – Freikirchen, Pietisten, Pfingstler oder Charismatiker – aber auch traditionalistische Kreise in der katholischen Kirche oder Teile der orthodoxen Kirche: «Sie tragen sozusagen in ihrer DNA bestimmte Vorstellungen von bösen Mächten in sich, die den Glauben zugrunde richten wollen – Apokalypse und Weltende inclusive».
Evangelikalismus kann sich gegen medizinische Behandlungen richten
Bei manchen komme hinzu, dass sie medizinischer Behandlung aus Glaubensgründen distanziert gegenüberstehen, weil sie Gott nicht ins Handwerk pfuschen wollen oder eine spirituell überhöhte Unversehrtheit des Körpers bewahren wollen. Daraus resultiere eine gewisse Verweigerungshaltung. Christoph Urban geht auch auf die Wurzeln des Verschwörungsglaubens im US-amerikanischen Protestantismus der 1990er-Jahre ein, also am Ende des Kalten Krieges:
«Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs verband sich die Wahrnehmung, dass ein neues Zeitalter angebrochen sei. Gleichzeitig verschwand das auch von christlichen Fundamentalisten gepflegte Feindbild des Kommunismus. Sie versuchten daraufhin, diese Leerstelle zu füllen, indem sie ihre Energie gegen die eigene Regierung wandten. Diese würde mit obskuren Mächten paktieren, lautete die Unterstellung. Der damalige Präsident George W. Bush senior eignete sich dafür besonders gut, weil er vorher Chef des Geheimdienstes CIA gewesen war.»
Zu den bekanntesten Protagonisten dieser Ideen wurde der Fernsehprediger Pat Robertson. Er publizierte 1991 einen Bestseller mit dem Titel „Die neue Weltordnung„.
Dieses Buch zeigt deutlich die Tendenz des Evangelikalismus zu Verschwörungsdenken.
Auch nach Meinung des Weltanschauungs-Experten Matthias Pöhlmann sind traditionalistische katholische und evangelikale Milieus offen für Verschwörungserklärungen.
Die Offenheit für Verschwörungserklärungen ist laut dem Beauftragten für Sekten– und Weltanschauungsfragen in der bayerischen evangelischen Landeskirche etwa mit dem Schwarz-Weiß-Denken und der Einschätzung einer bösen Welt zu erklären.
Quellen:
Corona Verschwörungstheorien: Corona-Leugner unter Christen – Sektenbeauftragter warnt vor extremistischen Verschwörungstheoretikern (Sonntagsblatt)
Experte: Manche Christen offen für Verschwörungsmythen – Corona als große Inszenierung (Domradio)
Warum bestimmte Christen anfällig für Verschwörungstheorien sind (katholisch.de)
Anmerkungen:
Die Stellungnahmen der Fachleute zeigen gut, dass insbesondere Feindbilder und Schwarz-Weiss-Denken zur Neigung des Evangelikalismus hin zu Verschwörungsdenken betragen.
Siehe auch als verwandtes Thema:
Sündenböcke als Kernelement von Verschwörungstheorien
Allerdings ist auch hier Differenzierung nötig. Auch wenn es Gemeinsamkeiten in den Denkmustern gibt, neigen nicht alle Evangelikale gleichermassen zu Verschwörungstheorien. So hat sich zum Beispiel der Vorstand einer pietistischen Glaubensgemeinschaft aus Württemberg entschieden von Verschwörungstheorien zur Corona-Pandemie distanziert. Solche Theorien kursierten auch im Raum des Pietismus, erklärt der Vorstand und hält dagegen: «Wir widersprechen….gleichzeitig Medienberichten und -kommentaren, die den Pietismus und Evangelikalismus in absurder Weise als Nährboden und Sammelbecken für Verschwörungstheoretiker, ‚Querdenker‚ und Corona-Leugner diffamieren.» Der Vorstand weist ausserdem den Versuch zurück, das vom Bundestag beschlossene Infektionsschutzgesetz in die Nähe des nationalsozialistischen Ermächtigungsgesetzes von 1933 zu stellen. Er verurteilt zudem den Gebrauch von diffamierenden Begriffen wie „Impf-Holocaust“. Von der Teilnahme an Veranstaltungen gegen die Corona-Beschränkungen rät der Vorstand ab: «Das extremistische Umfeld der jüngsten Corona-Demonstrationen in Berlin und Leipzig ist kein Ort für christlich motivierten Protest, ganz gleich wogegen er sich richtet.»
Quelle: Pietisten in Württemberg distanzieren sich von „Querdenkern“ (evangelisch.de)