Miriam Hollstein führte für T-online ein informatives Interview über verschiedene Aspekte von Verschwörungstheorien. Hier daraus ein paar Kernaussagen zusammengefasst:
☛ Für Verschwörungstheorien gibt es drei klassische Merkmale: In ihrem Zentrum steht immer eine Gruppe von Menschen, die ein bösartiges Ziel verfolgt und im Geheimen agiert.
☛ Es können verschiedene Verschwörungstheorien unterschieden werden: Manche sind eingebettet in übernatürliche Erzählungen . So sind beispielsweise die Anhänger der Reptiloiden-Theorien davon überzeugt, dass fiktionale Wesen uns insgeheim kontrollieren. Andere dagegen orientieren sich an konkreten realen Ereignissen. Zu dieser Gruppe zählt die Idee, dass der Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September von der Bush-Regierung arrangiert wurde.
Was macht Verschwörungstheorien attraktiv?
☛ Welche Bedürfnisse sprechen Verschwörungstheorien an? Was macht sie attraktiv?
Sie sprechen sehr fundamentale menschliche Bedürfnisse an, beispielsweise den Wunsch nach Gemeinschaft und Ansehen. Die Querdenker 711-Bewegung und die Anti-Corona-Demonstrationen bieten die Gelegenheit, Teil einer eng verbundenen und vermeintlich überlegenen Gruppe zu werden.
Ein weiteres Bedürfnis besteht darin, die Welt um uns herum zu verstehen, ihr Sinn zu verleihen, und sie zu beeinflussen.
Anni Sternisko erwähnt als Beispiel die Ermordung von John F. Kennedy und den Unfalltod von Lady Diana: «Beides waren unerwartete Ereignisse, die die Menschen tief erschütterten. Die daraus resultierenden Verschwörungstheorien halfen den Menschen, diesen Ereignissen Sinn zu geben und verringerten so die Angst, dass ihnen selbst möglicherweise etwas widerfahren könnte. Da wurde dann John F. Kennedy durch das FBI ermordet und Lady Diana durch das Königshaus.» Der Glaube an Verschwörungstheorien sei oft ein Versuch, das Gefühl von Ohnmacht zu überwinden und sich wieder handlungsfähig zu fühlen.
☛ Wer fühlt sich davon besonders angesprochen?
Anni Sternisko sagt, dass manche Menschen eine natürliche Tendenz zum Verschwörungsglauben zu haben scheinen. Andere würden zu Verschwörungstheorien erst dann neigen, wenn sie ihre Bedürfnisse nicht befriedigt sehen. Das sei insbesondere dann der Fall, wenn sie sich machtlos, verunsichert und von der Mehrheitsgesellschaft entfremdet fühlen. Oft seien es Leute, die nach Erklärungen suchen.
Das Gefühl von Überlegenheit
☛ Sternisko wird im Interview auch auf Prominente wie zuletzt den Sänger Michael Wendler angesprochen, die Verschwörungserzählungen verbreiten.
Antwort: «Zu Verschwörungsglauben neigen oft Menschen, die sich einzigartig fühlen möchten und gesehen werden wollen. Wer öffentlich Verschwörungsvideos verbreitet, weiß, dass er damit Normen bricht und aneckt. Die Aufmerksamkeit, die solch unkonventionelles Verhalten auf sich zieht, potenziert sich natürlich mit dem Prominenten-Status. Im Übrigen sind Verschwörungsaussagen mit einem Gefühl von Überlegenheit verbunden: Ich bin so besonders, dass ich als eine/r der Wenigen erkannt habe, welcher geheime Plot hinter einem Ereignis steckt. Auch im Fall Wendler sehen wir, dass Menschen, die nicht an seine Verschwörungstheorien glauben, als unwissend und naiv dargestellt werden.»
☛ US-Präsident Donald Trump hat seit seinem Amtsantritt die Normen rund um Verschwörungserzählungen verändert. Früher habe man sie oft nur hinter vorgehaltener Hand erzählen können und riskierte, als Spinner abgestempelt zu werden, sagt Anni Sternisko: «Wenn heute einer der mächtigsten Männer der Welt über Twitter öffentlich Verschwörungstheorien befeuert, ermutigt das Menschen, selbst Verschwörungstheorien zu propagieren. Die außerordentliche Medienpräsenz von Trump sorgt zudem dafür, dass solche Verschwörungserzählungen ein großes Publikum erreichen. Selbst wenn sie im Nachhinein widerlegt werden, bleiben sie oft in den Köpfen der Menschen stecken.»
Verschwörungstheorien sind gefährlich für Demokratien
☛ Verschwörungstheorien sind extrem gefährlich für Demokratien: «Wir wissen aus der Forschung, dass sie zu Gewalt motivieren, die Stigmatisierung von Gruppen verstärken und mit politischem Extremismus verbunden sind. Auch gehen Menschen, die an bestimmte Verschwörungstheorien glauben, seltener zur Wahl und sind auch eher bereit, gegen das Gesetz zu verstoßen.» Auf die Corona-Pandemie bezogen sagt Sternisko, dass eine jüngere Datenanalyse zeige: «Wer an Verschwörungen zum Thema Corona glaubt, praktiziert weniger Hygiene, hält weniger Abstand und steht Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung des Virus kritischer gegenüber.»
☛ Verschwörungstheorien sind auch eine Form der Gesellschaftskritik. Sie sind Hinweise darauf, dass in unserer Gesellschaft etwas grundsätzlich schiefläuft. Denn Menschen wenden sich vermehrt dann Verschwörungstheorien zu, wenn ihre Bedürfnisse nach Erklärung, Sicherheit und Gemeinschaft nicht genügend erfüllt werden. Hier bieten Verschwörungstheorien dann Ersatz durch vereinfachte Erklärungen für Ereignisse, die den Menschen Angst machen. Sie sind erfolgreich, weil sie damit oft den Nerv einer Zeit treffen.
Solche Entwicklungen fordern uns laut Sternisko zum Nachdenken auf:
«Wo versagen wir als Gesellschaft? Warum können wir die Bedürfnisse unserer Mitmenschen nicht erfüllen? Wo ist Handlungs- und Besserungsbedarf? In diesem Sinne sind Verschwörungstheorien auch eine Form der Gesellschaftskritik.» Damit könnten wir die Ursachen für den Boom an Verschwörungstheorien angehen. Die Verschwörungstheorien selbst sind nur Symptome.
Die deutsche Psychologin Anni Sternisko forscht an der New York University.
Quelle:
Interview: „Donald Trump befeuert Verschwörungstheorien“ (T-online)