In der Vormoderne lieferte die Religion einen größeren Ordnungsrahmen, in den die Menschen ihr Leben und das ganze Weltgeschehen einordnen konnten. Als die Religion wegfiel, benötigten viele Menschen ein neues allumfassendes Deutungsmuster. Die Welt, die Gesellschaft und auch das eigene Leben: All das musste doch einen versteckten, tieferen Sinn besitzen. Die Überzeugung, dass die ganze Welt sich gegen einen verschworen hat, mag zwar erschreckend sein. Doch ist es vielleicht weniger erschreckend, wie sich einzugestehen, dass man die Welt nicht zur Gänze versteht.
Verschwörungstheorien basieren an vielen Punkten in vormodernen Weltbildern. Sie sind in ihrem Kern antimodern und antiaufklärerisch. In der Vormoderne lebten die Menschen grob gesagt grundsätzlich in Vorstellungswelten, in denen eine dunkle Macht Krankheit bringt, eine höhere Gewalt den Donner schickt und der böse Blick der Nachbarin zum Tod des Kindes beigetragen hat.
Natürlich ist es nicht angemessen, Verschwörungsgläubige pauschal als vormoderne Menschen abzustempeln. Vormoderne Aspekte in Verschwörungstheorien sollten aber beachtet werden. Nachfolgend ein paar Beispiele:
Vormoderne Aspekte in Verschwörungstheorien
☛ Vormodern ist ihr Anspruch, absolute und letztgültige Antworten auf die Fragen der Welt zu geben. Letztgültige und absolute Antworten erwarteten vormoderne Gesellschaften von den Göttern.
☛ Hinter Verschwörungstheorien steht das Weltbild einer feudalen Gesellschaftsordnung: Einige Wenige, mit Macht und Reichtum ausgestattet, herrschen über die grosse Masse der Menschen. Was damals Könige und der Klerus waren, sind für Verschwörungsgläubige heute Zentralbanker und globale Unternehmer, zum Beispiel Personen wie Bill Gates und George Soros.
Demokratische Institutionen, Gesetze und anerkannte Medien kommen in diesem Weltbild nicht wesentlich vor. Sie gehören zur Scheinwelt, die von denen erzeugt wird, die auch heute noch die Welt im Geheimen angeblich steuern und regieren.
☛ Verschwörungstheoretisches Denken stellt die Geldwirtschaft oft als modernes Element einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung ins Zentrum. An diesem Punkt verbinden sich verschwörungstheoretisches Denken mit dem Denken in antisemitischen Stereotypen.
In beiden Systemen sind es geheime, mächtige Personengruppen oder auch Institutionen, die über das Geld- bzw. Finanzsystem die Welt und somit uns alle beherrschen. Diese verkürzte „Kapitalismuskritik“ kommt in kritischem Gewand daher, nutzt jedoch klassisch antisemitische Stereotype.
☛ Verschwörungstheoretisches Denken gründet unter anderem in vormodernen Vorstellungen von der Wirklichkeit als Schauplatz für den ewigen Kampf von Gut und Böse in Gestalt von göttlichen und dämonischen Mächten. Diese religiösen Wurzeln von Verschwörungstheorien gehen bis auf die antike Gnosis und den Manichäismus zurück. Siehe dazu auch: Religiöse Elemente in Verschwörungstheorien – woran sind sie erkennbar?
☛ Verschwörungstheorien gehen oft davon aus, dass eine kleine Gruppe von Verschwörern in der Lage ist, komplexe Vorgänge und Weltereignisse zu steuern. So geht zum Beispiel die Verschwörungstheorie von «Grossen Austausch» davon aus, dass «Eliten» eine «Umvolkung» mittels Migration durchführen wollen. Diese Idee, dass geschichtliche Ereignisse planbar und steuerbar sind, liegt sehr nahe an der vormodernen Vorstellung, dass ein «Herrgott» die Geschicke der Welt lenkt. In einem vergleichbaren Sinn schreiben Verschwörungsgläubige den Verschwörern die Fähigkeit zu, über Jahre, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg die Geschicke eines Landes oder gar der Welt zu bestimmen. Das widerspricht fundamental dem Menschen- und Weltbild der modernen Sozialwissenschaften. Sie haben gezeigt, dass soziale System ein Eigenleben führen und Effekte generieren, die niemand intendiert hat. Siehe dazu:
Geschichtskompetenz (historical literacy) zur Vorbeugung gegen Verschwörungstheorien
Quellen:
Moderne Verschwörungstheorien & Antisemitismus – Beitrag von Dr. Michael Müller, in: inforex- Infoblatt gegen Rechtsextremismus (Nr. 1/2020), Themenblätter der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Rheinland-Pfalz.
Jugendliche, Medien und Verschwörungstheorien (Utopian-Reflections)
„Verschwörungstheorien “, von Karl Hepfer
Das große Corona-Komplott? Ein Interview mit Prof. Richter (Universität München)