Verschwörungstheorien gehen davon aus, dass nichts ist, wie es scheint. Dazu braucht es eine Umdeutung des Geschehens, eine Neuinterpretation. Und das ist ein anspruchsvolles Geschäft.
Manchmal stellt sich etwa als anders heraus, als es auf den ersten Blick erscheint. Deshalb ist eine gewisse Skepsis gegenüber diesem «ersten Blick» durchaus angebracht.
Allerdings braucht es schon ein paar gute Gründe, wenn man zum Beispiel behauptet, Angela Merkel sei entgegen dem «ersten Blick» kein normaler Mensch, sondern ein Reptiloid. Umdeutung einfach nur damit umgedeutet ist, scheint jedenfalls nicht gerade sinnvoll.
Es gibt aber durchaus Beispiele dafür, dass der «erste Blick» in die Irre führt, und die Skepsis schliesslich Recht behält. Auf den ersten Blick mögen die Schilderungen der Regierung Bush, wonach Saddam Hussein im Irak Massenvernichtungswaffen besitzt, für viele Menschen überzeugend gewesen sein. Und trotzdem war es in diesem Fall nicht so, wie es lange Zeit schien.
Das Problem mit Verschwörungsgläubigen ist jedoch, dass für sie nichts ist, wie es scheint. Jedenfalls dann, wenn es sich um Statements handelt, die von den angeblichen Verschwörern in die Welt gesetzt werden. Ob es sich um Forschungsergebnisse der Klimatologie handelt, die im Bericht des Weltklimarats zusammengefasst werden, oder um wissenschaftliche Erkenntnisse zur Corona-Pandemie: Verschwörungsgläubige im jeweiligen Themenfeld müssen eine Umdeutung vornehmen.
Dabei ist dieses «Nichts ist, wie es scheint» bei Verschwörungsgläubigen sehr selektiv. Gegenüber den eigenen Theorien und Überzeugungen sind sie in der Regel hochgradig unkritisch. In ihrem eigenen «Biotop» existiert für sie kein Schein, sondern nur die reine Wahrheit.
Struktur der verschwörungstheoretischen Umdeutung
Jan Skudlarek beschreibt die Umdeutung, die dem verschwörungstheoretischen Denken zugrunde liegt, in seinem Buch «Wahrheit und Verschwörung» (2019).
Finde ein bedeutendes Ereignis A statt (z. B. ein Terroranschlag, ein Amoklauf, eine Katastrophe oder ganz allgemein der gesellschaftliche Wandel), seien Verschwörungstheoretiker mit folgender Formel zur Stelle:
« 1.) A ist in Wahrheit nicht / kein A, sondern B.
2.) B wurde insgeheim von Verschwörergruppe V geplant und durchgeführt, um Ziele Z zu erreichen.»
Das sei das Kernstück des konspirativen Denkens, schreibt Skudlarek. Es gehe um die Umdeutung bzw. Neuinterpretation von Inhalten, von denen bereits eine allgemein akzeptierte Deutung (d. h. eine öffentliche Erzählung) bestehe. Die Umdeutungslogik folge dabei dem Muster, dass eine Verschwörergruppe aus dem Hinterhalt über die wahre Natur eines Sachverhalts hinwegtäusche, um so insgeheim ihren manipulativen Zielen nachgehen zu können.
Skadlarek kommt zum Schluss:
«In diese Grundformel können Verschwörungstheoretiker so gut wie jedes gesellschaftlich relevante Ereignis fassen.»
Beispiele für die verschwörungstheoretische Umdeutung
Nachfolgend vier Beispiele für verschwörungstheoretische Umdeutung (modifiziert und erweitert in Anlehnung an Skudlarek 2019):
A. Beispiel Migration
- Umdeutung:
Bei der Migration handelt es sich in Wahrheit gar nicht um Migration, sondern um Umvolkung im Sinne des «Grossen Austauschs».
- Ziel / Absicht:
Diese Umvolkung soll im Geheimen von einer globalen Elite geplant werden, wobei als Lenker im Hintergrund oft auf George Soros verwiesen wird, einem Lieblings-Feindbild der Rechtspopulisten und Rechtsextremen. Als Ziel der Umvolkung gilt für Verschwörungsgläubige neben dem Austausch der Bevölkerung auch die Destabilisierung der Nationalstaaten.
B. Beispiel Anschlag Breitscheidplatz (2016)
- Umdeutung:
Der Islamistische Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin ist in Wahrheit kein islamistischer Terroranschlag, sondern ein staatlicher Angriff auf die eigenen Bürger.
- Ziel / Absicht:
Dieser staatliche Angriff auf die eigenen Bürger wurde insgeheim von der Merkel-Regierung geplant und durchgeführt. Damit soll ein Grund geliefert werden, um strengere Überwachungsgesetze durchsetzen zu können. Nach Ansicht von Verschwörungsgläubigen handelt es sich um eine False-Flag-Operation.
C. Beispiel Impfungen
- Umdeutung:
Impfungen sind in Wahrheit keine sinnvollen Vorbeugemassnahmen gegen Krankheiten, sondern gefährliche Eingriffe in den Organismus.
- Ziel / Absicht:
Diese gefährlichen Eingriffe in den menschlichen Organismus werden im Geheimen von Medizinern und der Phamalobby geplant und durchgeführt, um damit möglichst viel Geld zu verdienen.
D. Beispiel freie Medien
- Umdeutung:
Freie Medien sind in Wahrheit keine freien Medien, sondern von einer mächtigen Elite gesteuerte Meinungsmache und Propaganda (siehe auch: Lügenpresse)
- Ziel / Absicht:
Diese Meinungsmache und Propaganda wird im Geheimen von einer Elite geplant und durchgeführt, um die Bürgerinnen und Bürger für dumm zu verkaufen.
Quelle:
Jan Skudlarek, Wahrheit und Verschwörung – Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist, Reclam Verlag 2019.
Schlussbemerkung:
Auffallend ist, wie eng geführt die Umdeutungen vonstatten gehen. Es werden sehr viele Begleitfaktoren weggelassen. Beispiele:
☛ Es wird ausgeklammert, dass politische, gesellschaftliche und ökonomische Vorgänge komplex sind und sich nicht einfach nach dem Willen einer Verschwörer-Gruppe steuern lassen Es gilt auch hier der alte Grundsatz: „Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.“
Dem verschwörungstheoretischen Denken, das davon ausgeht, dass beispielsweise beim Thema Migration globale Vorgänge über viele Jahre nach dem Willen einer kleinen Gruppe gesteuert werden können, liegt ein überholtes, mechanistisches Geschichts- und Menschenbild zugrunde. Siehe dazu:
Mechanistisches Weltbild der Verschwörungstheoretiker
☛ Es bleibt bei diesen Umdeutungen in der Regel unbeachtet, wieviele Mitwisser einer Verschwörung schweigen müssten, damit sie nicht bekannt wird. Bereits der italienische Staatsmann Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) hat in seinem Werk interessante Gedanken geäussert zu Verschwörungen. Er hat die Schwierigkeiten auf den Punkt gebracht, die einer erfolgreichen Verschwörung entgegenstehen.
Er schrieb dazu:
„Das einzige Mittel, der Entdeckung zu entgehen, ist es, den Mitverschwörern keine Zeit zu lassen, das Komplott zu verraten.“
Je länger also eine Verschwörung andauert, desto nervöser werden die beteiligten Verschwörer und desto akuter ist die Gefahr, dass sie sich unabsichtlich verraten oder einer zur Polizei geht.
Denn wer sich zuerst den Behörden offenbart, hat die Chance, mit einer milderen Strafe oder sogar einer Strafbefreiung davonzukommen.
Daraus lässt sich gemäss Machiavelli eine weitere Regel ableiten:
„Vor der Entdeckung einer Verschwörung kann man sich nicht schützen, wenn die Anzahl der Mitwisser drei oder vier übersteigt.“
Siehe dazu:
Machiavelli über Verschwörungen und ihre Grenzen