Typische Figuren im Kontext von Verschwörungstheorien sind die sogenannten Überläufer (Renegaten).
Solche Überläufer (engl. „renegade“) stammen zum Beispiel aus den Medien oder einer wissenschaftlichen, regierungsnahen oder anderweitig einflussreichen Institution. Sie treten in die Gemeinschaft der Verschwörungstheoretiker ein und verkünden dort ihr Insiderwissen, das die Argumentation der Verschwörungserzählung bestätigt.
Seine Biografie und sein Lagerwechsel verschaffen dem Überläufer bei Verschwörungsgläubigen besondere Glaubwürdigkeit. Oft erreichen solche Überläufer einen besonderen Status innerhalb der Gemeinschaft der Verschwörungsgläubigen und können dort
zu einer Integrationsfigur werden.
Michael Butter schreibt in seinem Buch «Nichts ist, wie es scheint» zum Überläufer:
«Da er zur Verschwörung gehört, verfügt er über Insiderwissen und kann so die Verdächtigungen der Aussenstehenden bestätigen. Zudem….ist der renegade, also der Überläufer, der lebende Beweis dafür, dass im Kampf zwischen Gut und Böse das Gute nicht chancenlos ist, weil es möglich ist, die Mitglieder der Verschwörung auf die eigene Seite zu ziehen.
Entsprechend häufig begegnet man deshalb in der Geschichte der Verschwörungstheorien solchen Überläufern. Fast ebenso häufig jedoch sind die Enthüllungen der Überläufer mit Vorsicht zu geniessen, da sie von diesen erfunden werden, um die ohnehin schon existierenden Vorurteile der Verschwörungstheoretiker zu bedienen….»
Butter führt weiter aus:
«Überläufer fungieren aber nicht nur als Gewährsmänner (und -frauen) für die Behauptungen anderer; sie werden selbst oft zu mächtigen Anklägern. Durch ihren Übertritt zur “guten” Seite besitzen sie in den Augen ihres von der Verschwörung überzeugten Publikums beträchtliches kulturelles Kapital, das sie entsprechend einsetzen können.
Michael Butter führt als Beispiele für «Überläufer» neben Donald Trump Gerhard Wisnewski, Mathias Bröckers und Daniele Ganser an, die unter anderem im Bereich der 9/11–Truther-Szene auftreten.
Butter schreibt:
«So nutzen die Journalisten Gerhard Wisnewski und Mathias Bröckers ihre Vergangenheit in den “Mainstreammedien”, um diesen Zensur und Manipulation besonders glaubwürdig vorzuwerfen. Daniele Ganser inszeniert sich in seinen Vorträgen regelmässig als jemand, der die Fesseln des akademischen Betriebs abgeworfen hat, um weiterhin die Wahrheit sagen zu können. Und selbst Donald Trump, der im Wahlkampf zahlreiche Verschwörungstheorien aufgriff, insbesondere solche, die Hillary Clinton als Teil einer globalen Verschwörung gegen das amerikanische Volk darstellen, inszenierte sich wiederholt als Überläufer. Da er selbst Teil der Elite gewesen sei, wisse er genau, wie diese die einfachen Leute verrate und ausbeute, sagte er zum Beispiel in einem Interview mit dem bekanntesten US-Verschwörungstheoretiker Alex Jones….»
Historische und aktuelle Beispiele für Überläufer
Die Geschichte der Verschwörungstheorien kennt eindrückliche Beispiele für Überläufer. Ingo Grabowsky schreibt dazu in seinem Buch «Ketzer, Chemtrails und Corona – die mysteriöse Welt der Verschwörungstheorien und Geheimbünde»:
«Im 17. Jahrhundert meldeten sich ehemalige Jesuiten oder Menschen, die sich als solche ausgaben, zu Wort und berichteten die “Wahrheit” über die “Verbrechen” ihres einstigen Ordens. Ehemalige Freimaurer enthüllten hundert Jahre später die angeblichen Weltherrschaftspläne der Geheimgesellschaft. Heute verbreiten Journalisten, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr von ihren ehemaligen Medienhäusern beschäftigt werden, die Verschwörungstheorie von der Lügenpresse. Dabei führen sie ihre Herkunft aus dem “System” als Beleg der Glaubwürdigkeit an. Ein gutes Beispiel ist die ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Eva Hermann, die obskure Foren nutzt, um Verschwörungstheorien zu verbreiten.»
Ein weiterer «Überläufer» ist der ehemalige Journalist Ken Jebsen, der sich seit seiner Entlassung beim Sender rbb als Hassprediger und Verschwörungsideologe betätigt.
Überläufer und Whistleblower – wo liegen die Unterschiede?
Ein Whistleblower oder eine Whistleblowerin ist eine Person, die für die Öffentlichkeit wichtige Informationen aus einem geheimen oder geschützten Zusammenhang veröffentlicht. Bei echten Verschwörungen benennt ein Whistleblower möglichst konkret die Verschwörer und liefert dazu wenn möglich Belege. Etablierte Medien, die Aussagen von Whistleblowern veröffentlichen, überprüfen in der Regel die Informationen vor der Publikation. Und wenn Gesetze verletzt wurden, kommt es zu Gerichtsverfahren, die Tatbestände feststellen. Ein Beispiel für eine Verschwörung, bei der es genau so gelaufen ist, hat das Online-Magazin «Republik» zusammen mit dem Whistleblower Adam Quadroni dokumentiert. Es handelt sich um das Baukartell in Graubünden. Baufirmen haben dabei durch geheime Preisabsprachen private Bauwillige und die Öffentlichkeit abgezockt. Siehe dazu: Das Kartell (Republik).
Ein weiteres Beispiel für eine echte Verschwörung, die mit Hilfe eines Whistleblowers und eines Qualitätsmediums aufgedeckt wurde, ist die Watergate-Affäre. Der FBI-Ermittler Mark Felt war unter dem Pseudonym Deep Throat für die Washington-Post-Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein der entscheidende Informant.
Bei diesen echten Verschwörungen haben Verschwörungstheoretiker keine Rolle gespielt. Nötig war jeweils ein mutiger Whistleblower und fundierter investigativer Journalismus.
Diese beiden Beispiele zeigen auch die grossen Unterschiede zu einem Überläufer, der flugs ins Lager der Verschwörungsgläubigen wechselt, dort nicht selten zum Star avanciert und Ressentiments, Empörung und Feindbilder bewirtschaftet.
Quellen:
Michael Butter, «Nichts ist, wie es scheint – Über Verschwörungstheorien», Suhrkamp 2018.
Ingo Grabowsky, «Ketzer, Chemtrails und Corona – Die mysteriöse Welt der Verschwörungstheorien und Geheimbünde, HEEL Verlag 2020.