Bei den «Turner-Tagebücher» („The Turner Diaries“) handelt es sich um einen antisemitischen Roman, den der US-amerikanische Rechtsextremist William Luther Pierce (1933 – 2002) unter dem Pseudonym Andrew MacDonald im Jahr 1978 veröffentlicht hat. Pierce war Gründer und Leiter der National Alliance und ein Angehöriger von George Lincoln Rockwells American Nazi Party (ANP).
Der Autor beschreibt eine „weiße Revolution“, in der eine arische Untergrundorganisation einen Widerstandskampf führt gegen „das jüdische System“, welches Regierung, Medien und Wirtschaft kontrolliert. Die Protagonisten kämpfen dabei als „einsame Wölfe“ („Lone Wolfs“) nach dem Konzept des „führerlosen Widerstands“ („Leaderless Resistance“). Es sind amerikanische Rassisten, die Anschläge auf Moscheen, Polizeistationen, Gemeindezentren begehen, um einen Krieg der Rassen zu entfesseln. Es braucht keine Bekennerschreiben, weil die Täter sich an ihren Taten erkennen.
Diese Anschläge sollen Gegenschläge provozieren, damit es zum Endkampf kommt und damit zum Endsieg. Als Folge davon werden alle Afrikaner, Araber und Asiaten ermordet und die Weißen übernehmen die Weltherrschaft.
Wer sich an die Verschwörungstheorien, die Rassenideologie und die Völkermorde der Nationalsozialisten erinnert fühlt, liegt damit nicht falsch.
Die Turner-Tagebücher und ihre Folgen
Die Turner-Tagebücher beschreiben unter anderem einen Autobomben-Anschlag auf die FBI-Zentrale. Diese Schilderung inspirierte den Rechtsextremen Timothy McVeigh zum Bombenattentat auf die FBI-Zentrale von Oklahoma City am 19. April 1995. Dieses Attentat kostete 168 Menschen das Leben, darunter 19 Kinder. Selbst bei der Uhrzeit des Bombenanschlags hielt sich der Täter an die Buchvorlage und in seinem Wagen wurden Auszüge aus dem Buch gefunden.
Die Turner-Tagebücher gelten als Standardwerk der rassistischen White-Supremacy-Bewegung in den USA und als eine Art von «Bibel» der Rechtsextremisten. Das Buch verbreitete sich rasch in der weltweiten Neonazi-Szene; als erstes grosses rechtsextremes Netzwerk berief sich Blood and Honour darauf. Auch der norwegische Terrorist Anders Breivik und die Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds in Deutschland (NSU) haben das Werk gelesen. Auch im Zusammenhang mit dem Sturm auf das Capitol in Washington anfangs 2021 tauchen die Turner Diaries auf.
Parallelen zur christlichen Apokalypse-Fiktion
Das Narrative der Turner-Tagebücher taucht in ähnlicher Form auf in der Left-Behind-Buchreihe, die zur christlichen Apokalypse-Fiktion gehört. Die sechzehn Bände der Autoren Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins verkauften sich bis heute weltweit etwa 65 Millionen Mal. Es folgen drei Filme, in denen der evangelikale Star Kirk Cameron die Hauptrolle spielte. Im Jahr 2014 gab es ein Remake mit Nicolas Cage, das weltweit 27 Millionen US-Dollar einspielte und fast ausschliesslich negative Kritiken erhielt. Den Autoren Tim LaHaye und Jerry Jenkins gefiel der Film jedoch.
In seinen Büchern folgt LaHaye einer kleinen Gruppe von jungen Christen, die nach der Rapture (endzeitliche Entrückung der Gläubigen) auf der Erde zurückgelassen werden. Als Guerilla-Truppe leisten sie hier gewaltsam Widerstand gegen die vom Antichristen orchestrierte Eine-Welt-Regierung.
Zu den Parallellen zwischen den Turner-Tagebüchern und der Left-Behind-Buchreihe schreibt Annika Brockschmidt in ihrem lesenswerten Buch „Amerikas Gotteskrieger“:
„In beiden Texten geht es um eine kleine, revolutionäre Gruppe, angeführt von Weissen Männern. Sie arbeiten auf eine Utopie hin, die nur aus Gewalt und Zerstörung entstehen kann. Dafür muss in beiden Welten ein Grossteil aller Menschen sterben – in den Turner Diaries sind das die Nicht-Weissen, bei Left Behind sind es die Nicht-Christen. Dabei ist besonders die Glorifizierung der Gewalt verstörend.
Tim LaHaye empfindet seine Darstellung von ‚Strömen von Blut‘, die über die Erde fliessen, das Blut der Feinde Gottes, nicht als problematisch.
LaHaye selbst hoff, die Rapture noch zu erleben: ‚Das Beste kommt erst noch, und ich kann es kaum erwarten, diese wunderbare Erfahrung zu erleben. Es wird besser sein, als wir es uns je erträumt haben‘.“
Quellen:
Rechtsextremismus: Der Terror-Ratgeber (Süddeutsche)
Beitrag über The Turner Diaries (Turner-Tagebücher) auf Wikipedia.
Jüdische Weltverschwörung, UFOs und das NSU-Phantom (Bundeszentrale für politische Bildung)
Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien – ein enger Zusammenhang
Left Behind (2014), Artikel auf Wikipedia.
Annika Brockschmidt, Amerikas Gotteskrieger, Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet, Rowohlt Verlag 2021 (Seiten 262/263)
Ausserdem:
☛ Die Turner-Tagebücher sind ein schreckliches Beispiel für die Funktionsweise rechtsextremer Demagogie. Reale oder eingebildete Probleme werden hochgradig aufgeblasen, zu einer Frage von Leben oder Tod erklärt und mit einer absoluten Dringlichkeit versehen (5-vor-Zwölf-Rhetorik). ‘Der Endkampf steht unmittelbar bevor. Wenn wir uns jetzt nicht wehren, gehen wir unter’. Auf dem Hintergrund dieser Drohkulisse wird der Griff zur Waffe legitimiert. Die manipulative Hasserzeugung ist der Treiber in diesem Prozess. Die ganze Endkampf-Rhetorik mit dem danach in Aussicht gestellten arischen Paradies hat eine verkappte religiöse Komponente, die den Rechtsextremen wohl kaum bewusst ist.
☛ Die Turner-Tagebücher sind auch ein Beispiel dafür, wie Worte zu Hass und Hass zu Gewalt führen kann. Im strafrechtlichen Sinn mögen in den meisten Fällen allein die Täter verantwortlich sein. Im moralischen Sinn jedoch gibt es kein unschuldiges Aufstacheln zu Hass. Wer mit dem Feuer spielt muss sich über einen Grossbrand nicht wundern. Hass ist keine Meinung, sondern ein Brandbeschleunigungsmittel. Die Demokratie muss sich hier wehrhaft zeigen, zum Beispiel wenn es um den Schutz von Politikerinnen und Politikern geht, die Drohungen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt sind.
☛ Demokratinnen und Demokraten sollten sich besser vernetzen und demokratiestärkende Institutionen und Organisationen unterstützen.
☛ Siehe auch:
Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien – ein enger Zusammenhang
Antisemitismus und Verschwörungstheorien
Religiöse Elemente in Verschwörungstheorien – woran sind sie erkennbar?