Die Bezeichnung Stalinismus umfasst die Herrschaft Josef Stalins (1878 – 1953) in den Jahren 1927 bis 1953 in der Sowjetunion. In beiden totalitären Systemen des 20. Jahrhundert – dem «Dritten Reich» und dem Stalinismus – spielten Verschwörungstheorien eine besondere Rolle. Sie dienten als Propagandamittel und wurden zur Legitimierung von Unterdrückung und Verfolgung vermeintlicher Feindgruppen verwendet.
Stalin setzte in seiner Regierungszeit gezielt Propaganda ein, um ein Bedrohungsszenario des kommunistischen Staatswesens durch faschistische und kapitalistische Verschwörer zu konstruieren. Die umfangreichen Verschwörungstheorien dienten der Machterhaltung, der Legitimierung von Gewalt und der Konstruktion von Sündenböcken für staatliche Misserfolge und Probleme der Bevölkerung im Alltag.
Drei Höhepunkte der stalinistischen Verschwörungsideologie waren die «Moskauer Schauprozesse» (1936 – 1938), der «Grosse Terror» (1936 – 1938) und die angebliche «Ärzteverschwörung» (1952).
Moskauer Schauprozesse
Stalin nutzte jede sich ihm bietende Gelegenheit, wirkliche und potenzielle Opponenten mithilfe der politischen Polizei und der Justizorgane kaltzustellen. In den Jahren 1936 – 1938 fanden in Moskau vier Gerichtsverhandlungen statt, in denen hohe Funktionäre der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) und der Sowjetunion wegen angeblicher terroristischer und staatsfeindlicher Aktivitäten angeklagt und umgebracht wurden. Drei dieser Prozesse waren öffentliche Verhandlungen und als Schauprozesse organisiert, einer ein nichtöffentlicher.
Durch die Prozesse entledigte sich Stalin, der im Hintergrund bei allen Prozessen die Regie führte, aller möglichen Opponenten in der Partei. In den Prozessen wurde jeweils behauptet, dass die Angeklagten in einer verschwörerischen Verbindung mit Trotzki und Agenten des kapitalistischen Auslands zum Zwecke der Unterminierung der Sowjetmacht gestanden hätten. Wer diese angeblichen Auftraggeber waren, richtete sich nach den jeweils dominierenden außenpolitischen Bündniswünschen der Kreml-Führung: Mal wurden sie mehr in Berlin, mal mehr in London angesiedelt.
Als „Beweise“ für die Anklagen dienten vorher vom NKWD erfolterte Geständnisse der Angeklagten; Sachbeweise wurden nicht präsentiert. Die zur Verurteilung führenden Geständnisse kamen durch Folter oder psychischen Druck zustande, beispielsweise durch die Drohung, auch Angehörige zu verhaften, zu misshandeln oder zu töten (Quelle: Wikipedia)
An diesem Beispiel zeigt sich die ultimative Durchsetzung von Verschwörungstheorien. Sie werden nicht nur fantasiert, sondern quasi mittels Folter als Realität präsentiert. Die Angeklagten gestehen die «Verschwörung», bereuen öffentlich und werden dann exekutiert.
«Ärzteverschwörung»
Die imaginäre Ärzteverschwörung war ein Ende 1952 von Josef Stalin und einigen Gefolgsleuten erfundenes Komplott von Medizinern insbesondere jüdischer Herkunft. Diese hätten angeblich geplant, Stalin und weitere Führer der Sowjetunion auszuschalten.
Im Januar 1953 „enthüllte“ die sowjetische Parteizeitung „Prawda“ die angebliche Verschwörung jüdischer Ärzte gegen den Kreml. Die erschreckende Schlagzeile lautete: „Bösartige Spione und Mörder unter der Maske akademischer Ärzte.“
Der Artikel dazu berichtete, mindestens ein Dutzend Ärzte hätten „sich das Ziel gesetzt, durch schädliche Behandlungsmethoden das Leben führender Persönlichkeiten der Sowjetunion zu verkürzen“.
Überraschend war ein weiterer Satz weiter unten in dem Artikel: „Die Mehrzahl der Mitglieder der Terroristengruppe stand mit ,Joint‘ in Verbindung.“
Und selbstverständlich wurde erklärt, was diese ominöse Gruppe ,Joint‘ angeblich war: „eine internationale jüdische bürgerlich-nationalistische Organisation, die von der CIA angeblich zur materiellen Unterstützung von Juden in anderen Ländern geschaffen wurde, in Wirklichkeit jedoch unter Leitung amerikanischer Spione in verschiedenen Ländern, darunter der Sowjetunion, umfassend spionierte, terrorisierte sowie andere Zersetzungsarbeit leistete“.
Knapp acht Jahre nach der Niederlage des Dritten Reiches lancierte also Stalin auf einmal eine antisemitische Verschwörungstheorie und ließ prominente Juden festnehmen.
Die „Aufdeckung“ führte zu vielen Verhaftungen und Hinrichtungen. Anfänglich kam es zu 37 Verhaftungen, doch diese Zahl wuchs schnell in die Hunderte. Dabei wurden Juden reihenweise entlassen, verhaftet, in Lager geschickt oder hingerichtet. Begleitet wurde dies von Schauprozessen und antisemitischer Propaganda in den staatlichen Massenmedien.
Unter den Verhafteten befand sich auch ein gewisser Professor Wladimir N. Winogradow: Stalins Leibarzt.
Die Wendung des stalinistischen Regimes gegen Juden kam nicht wirklich überraschend. Bereits Anfang 1948 waren alle explizit jüdischen Einrichtungen in der UdSSR aufgelöst worden. Es kam zu einigen mysteriösen Todesfällen prominenter jüdischer Sowjetbürger, die natürlich nie aufgeklärt wurden.
Entstalinisierung beendet Kampagne
Nach Stalins Tod im März 1953 und der beginnenden Entstalinisierung gaben die neuen Sowjetführer zu, dass es sich bei der „Ärzteverschwörung“ um eine gezielte Desinformationskampagne gehandelt hatte.
Dieser Verschwörungsglaube war sowohl Ausdruck von Machtkämpfen innerhalb der sowjetischen Nomenklatura als auch des zur Zeit des Sowjetkommunismus weit verbreiteten Antisemitismus.
Ende Februar 1953 verschlechterte sich Stalins Gesundheitszustand rasch. Auf die Empfehlungen seiner Ärzte hatte er noch nie viel gesetzt. Doch nun kümmerten sich hauptsächlich noch Leibwächter und zwei Haushälterinnen um ihn, denn die kompetenten Ärzte sassen im Gefängnis. Und die Leibwächter und Haushälterinnen hatten alle panische Angst vor Stalins unerklärlichen Wutausbrüchen und seiner unstillbaren Bösartigkeit. In der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März erlitt er allein in seinem Wohnzimmer einen Schlaganfall.
Da Stalin sich nicht meldete, störte ihn auch niemand. So kam es, dass er erst am Abend des 1. März endlich von den eingeschüchterten Helfern gefunden wurde. Er lebte noch, war jedoch gelähmt und nicht mehr fähig zu sprechen. Und auch jetzt waren keine Ärzte zugegen. So wurde ihm möglicherweise seine eigene Verschwörungstheorie zum Verhängnis. Stalin starb, nach tagelangem Siechtum, am Abend des 5. März 1953.
Wenige Stunden nach seinem Tod wurde die antisemitische Kampagne in der „Prawda“ gestoppt – von wem, ist nicht ganz geklärt.
Wenige Tage danach erklärte die Übergangsführung aus Beria, Chruschtschow, Malenkow und Bulganin, dass die Vorwürfe gegen die jüdischen Mediziner voll und ganz von Stalin erfunden worden seien. Drei Tage später wurden die Verhafteten freigelassen, darunter auch Winogradow.
Quellen:
Verschwörungstheorie: Stalin starb, weil er seine Ärzte ins Gefängnis warf (WELT)
Grosser Terror
Der Grosse Terror war eine von Herbst 1936 bis Ende 1938 dauernde umfangreiche Verfolgungskampagne in der Sowjetunion. Die Aktionen liefen meist darauf hinaus, dass die betreffenden Personen zumindest verhaftet und oft erschossen wurden. Die von der Geheimpolizei angewandten Straftatbestände wegen antisowjetischen Verhaltens, trotzkistischer oder anderer Opposition gegen die KPdSU sowie einer Vielzahl anderer Verschwörungstheorien galten allesamt als Verstöße gegen den Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR, der die rechtliche Grundlage für die Verfolgungen hergab. Zwischen September 1936 und Dezember 1938 wurden schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen getötet. (Quelle: Wikipedia)
Diese Beispiele zeigen, dass Verschwörungstheorien entscheidend mitwirken können bei Verbrechen mit Millionen von Toten. Sie unterscheiden sich zwar in ihrem Gewaltpotenzial, doch kann sich dies durch Entwicklungen im gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Umfeld rasch ändern. Verschwörungstheorien sollten daher nicht einfach als harmlose Spinnereien abgetan werden.
Die Moskauer Schauprozesse zeigen zudem drastisch, wie wichtig die Gewaltenteilung zwischen Justiz und Exekutive ist.
Siehe auch als weitere totalitäre Weltanschauung:
Nationalsozialismus und seine Verschwörungstheorien