Am 10. April 2010 stürzte im russischen Smolensk ein Flugzeug der polnischen Regierung ab. Dabei starben alle 96 Insassen. Zu den ums Leben gekommenen Passagieren gehörten Polens Staatspräsident Lech Kaczyński und seine Ehefrau Maria Kaczyńska, viele Abgeordnete des Parlaments, Regierungsmitglieder, hochrangige Offiziere, Kirchenvertreter, leitende Vertreter von Zentralbehörden sowie Vertreter von Verbänden der Opferangehörigen des Massakers von Katyn.
Das Flugzeug der polnischen Luftwaffe war unterwegs zu einer Gedenkveranstaltung zu Ehren der Opfer des Massakers von Katyn. Dort hatten im Jahr 1940 Angehörige des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in einem Wald etwa 4400 gefangene Polen erschossen.
Beim Landeanflug der Maschine in Smolensk herrschte dichter Nebel. Die russischen Fluglotsen empfahlen den polnischen Piloten, zur Landung nach Minsk oder Wizebsk auszuweichen. Der verantwortliche Pilot entschied sich jedoch, in Smolensk zu landen.
Trotz fehlender Sicht brachen die Piloten den Anflug erst in einer Höhe von 30 Metern ab. Es gelang ihnen nicht mehr, das Flugzeug hochzuziehen. Es streifte darauf hin Baumwipfel, prallte auf den Boden, zerbrach in mehrere Teile und geriet in Brand. Ein russisch geprägter Untersuchungsbericht schließt aus flugpsychologischen Untersuchungen, dass die Anwesenheit des Oberbefehlshabers der polnischen Luftwaffe im Cockpit den Kommandanten psychisch unter Druck gesetzt habe, trotz unangemessener Risiken einen Landeanflug zu versuchen. Ein polnischer Untersuchungsbericht weist diese Ansicht zurück und sieht auch Fehler bei den russischen Fluglotsen, die ungenauer Angaben gemacht und zu spät zum Abbruch des Landeanflugs aufgefordert hätten.
Untersuchungsberichte dokumentieren Ursachen
Der polnische Untersuchungsbericht stellt als mitbeteiligte Faktoren für das Unglück mangelhaftes Training, mangelhafte Koordination innerhalb der Besatzung, mangelhafte Flugvorbereitung, mangelhafte Zusammenstellung der Besatzung und diverse weitere Organisationsmängel fest. Er beschreibt insgesamt über 160 einzelne Mängel im Zusammenhang mit dem Unglücksflug. Ausführlicher zusammengefasst sind die Untersuchungsberichte auf Wikipedia.
Insgesamt erhärten mehrere Untersuchungsberichte den geschilderten Ablauf des Unfalls. Nichtsdestotrotz wurde dieser Absturz bei Smolensk zu Zentrum einer Verschwörungstheorie, die grossen Einfluss auf die politische Entwicklung in Polen hatte.
Verschwörungstheorie zum Absturz von Smolensk
Beim Absturz kam ein grosser Teil der politischen und militärischen Elite Polens ums Leben. Ein derart einschneidendes und traumatisches Ereignis ist geradezu prädestiniert für die Entstehung von Verschwörungstheorien. Bei grossen, einschneidenden Ereignissen neigen Menschen dazu, ihnen auch grosse Ursachen (wie eine Verschwörung) zuzuschreiben. Dass ein derart gravierendes Unglück durch schlechtes Wetter und Pilotenfehler verursacht wird, scheint uns irgendwie nicht angemessen. In der Psychologie spricht man hier vom Proportionality Bias.
Die Verschwörungstheorien rund um diesen Absturz sind aber auch ein Beispiel dafür, wie Verschwörungstheorien langfristig politisch instrumentalisiert, genährt und gepflegt werden.
Kurz nach dem Absturz äusserten besonders nationalkonservative Kreise Polens Vermutungen, dass es sich beim Flugunfall um ein Attentat auf Präsident Kaczyński gehandelt haben könnte. So wurde beispielsweise spekuliert, dass die russische Seite das Navigationssystem gestört hätte oder dass das Flugzeug mittels Laserstrahlen oder einem elektromagnetischen Puls zum Absturz gebracht worden sei. Die Ansicht, das Flugzeug sei absichtlich zerstört worden, hält sich in der Anhängerschaft der rechtsnationalen Partei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) und ihr nahe stehender Kreise bis heute.
Insbesondere Jaroslaw Kaczynski ist überzeugt davon, dass sein beim Absturz ums Leben gekommener Zwillingsbruder, der polnische Präsident Lech Kaczynski, umgebracht wurde.
Jaroslaw Kaczynski ist Gründer und seit 2003 Vorsitzender der nationalkonservativen Partei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) und war von 2003 – 2015 Oppositionsführer. Diese Position gab und gibt ihm reichlich Möglichkeiten, Verschwörungstheorien zum Absturz bei Smolensk zu verbreiten. Hinter dem vermuteten Attentat sollen Russlands Präsident Wladimir Putin und der liberal-konservative Donald Tusk, damals Ministerpräsident von Polen, stehen.
Im Polen gedenken Rechsnationale jeden Monat der Smolensk-Katastrophe. Die Jahresgedenkfeiern fallen entsprechend grösser aus. Jaroslav Kaczynski hält dort jeweils patriotische Reden. Dabei spricht er nicht mehr von den „Umgekommenen“, sondern von „Gefallenen“.
Als bei mehreren offiziellen Gedenkfeiern die Namen der Opfer von Smolensk in einem Atemzug mit den Kriegsgefallenen aufgelistet wurden, protestierten Verbände der Kriegsveteranen dagegen. Die Opfer der Katastrophe seien doch nicht im Kampf gefallen, wendeten sie ein. Doch das Wort „gefallen“ lässt sich einfacher mit einem Märtyrertum assoziieren, darum wird es weiterhin in den Reden und an Gedenktafeln verwendet. Diese Umbenennung von „Umgekommenen“ zu „Gefallenen“ ist auch ein Versuch, die Geschichte mit sprachlichen Mitteln umzuschreiben.
Nationalkonservative schaffen eine „Smolensk-Religion“
Inzwischen existieren in Polen neue Begriffe – man spricht von der Smolensk-Nation, der Smolensk-Sekte und der Smolensk-Religion. Philosophieprofessor Zbigniew Mikolejko von der Akademie der Wissenschaften kommt zum Schluss, dass die regelmäßigen Gedenkfeiern mit den Reden des PiS-Leaders an religiöse Rituale anknüpfen. Die Religion brauche Märtyrer und einen Gründungsmythos – und diese Funktion würden die Opfer der Katastrophe von Solensk erfüllen.
Die Verschwörungstheorie um die Flugzeugkatastrophe von Smolensk führte zu einer noch stärkeren Polarisierung des politischen Lebens in Polen.
Die Version, es habe sich dabei um ein Attentat gehandelt, ging in den Kanon der politischen Rechten in Polen ein. In liberalen und links orientierten Kreisen dagegen wurden diese Verschwörungstheorien als „Smolensker Religion“ (religia smoleńska) verspottet. Beide Varianten tragen auf ihrer Seite zur Festigung der Gruppenidentität bei.
Das nationalkonservative Parteienspektrum, das nach Meinung von Politologen ohnehin einen Hang zu Verschwörungstheorien und zur Polarisierung hat, nahm die Flugzeugkatastrophe und die vermeintliche Verwicklung der Regierung Tusk ausserdem zum Anlass, die schon zuvor bekannte Rhetorik vom „richtigen“ bzw. „wahren“ Polen (nationalkonservative und religiöse Kreise) und „Verrätern“ (die Regierung Tusk bzw. die Bürgerplattform) zu verschärfen.
Quellen:
Artikel «Smolensk» auf Wikipedia
Polen: Wozu Jaroslaw Kaczynski Smolensk braucht (mdr)
Das ist ein illustratives Beispiel dafür, wie Verschwörungstheorien sich zur Verstärkung von Spaltung und Polarisierung nutzen lassen.
Siehe passend dazu auch:
Verschwörungstheorien und Populismus
Polarisierung in der Politik schadet der demokratischen Kultur
Zum Unterschied zwischen Gegnerschaft und Feindschaft
Was ist Populismus? Und was nicht?