Verschwörungstheorien machen ein starkes Sinn- und Erklärungsangebot. Sie helfen dabei, Chaos und Zufall auszuschliessen. Sie entwerfen eine oft spannende Erzählung, in der alles aufgeht, in der alles Sinn ergibt. Das ist für zahlreiche Menschen ausgesprochen attraktiv.
Es ist aber nicht so, dass Verschwörungstheorien einfach immer eine fixfertige Sinn-Vorlage liefern. Die zukünftigen Verschwörungsgläubigen sind nicht einfach passive Sinn-Empfänger. Sie wirken bei der Sinn-Produktion oft mit als «Prosumenten». Sie sind gleichzeitig Konsumenten und Produzenten. Das gemeinsame Produkt bekommt dadurch mehr Glaubwürdigkeit (siehe dazu auch: IKEA-Effekt). Das Sinn-Produktion geschieht personalisiert. Das eigene Mitwirken erhöht die Überzeugungskraft.
Ein Beispiel für eine «Prosumenten»-Verschwörungstheorie ist QAnon. Q, der anonyme Stichwortgeber der Szene, verkündete überwiegend wirre, kryptische Wortschnipsel. Und Tausende von Fans machten sich an die Interpretation und versuchten und versuchen immer noch dem Schrott einen Sinn zu verpassen.
Je schwieriger die Sinn-Produktion, desto überzeugender?
Die psychologischen Hintergründe dieses Phänomens hat der amerikanische Soziologe und Ethnologe Harold Garfinkel erforscht. Er hat sich Zeit seines Lebens mit der Frage beschäftigt, wie Menschen aus Informationen sinnvolle Deutungen ableiten. Speziell bekannt geworden ist dabei ein Experiment, das er mit seinen Studierenden durchführte. Garfinkel kündigte seinen Studierenden an, dass er einen bekannten Therapeuten aus den USA einladen werde. Alle Studierenden, die Probleme mit ihren Eltern hätten, seien eingeladen, während des Besuchs zu einer extra für sie festgelegten Sprechstunde zu kommen. Der Therapeut würde jedoch hinter einer Wand stehen und stets nur mit «Ja» oder «Nein» antworten.
Als der berühmte Therapeut angekommen war, teilte Garfinkel seine Studierenden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein. Die erste Gruppe konnte ihre Anliegen vortragen und der Therapeut antwortete wie abgemacht nur mit «Ja» oder «Nein». Die zweite Gruppe wurde ebenfalls vor eine Wand gesetzt, dahinter sass jedoch nicht der Psychiater, sondern ein Zufallsgenerator. Damit wurden nach dem Zufallsprinzip «Ja»- und «Nein»-Antworten erzeugt, die an die Studierenden weitergeleitet wurden.
Die Antworten, die nach dem Zufallsprinzip erzeugt wurden, konnten ganz offenkundig kaum einen sinnvollen Zusammenhang zwischen den Fragen und den Antworten herstellen. Nach der «Beratung» durch den Therapeuten fragte Garfinkel seine Studierenden nach ihrem Eindruck und nach dem Grad ihrer Zufriedenheit.
Dabei zeigte sich interessanterweise, dass diejenigen Studierenden, welche zufällige Antworten bekommen haben, zufriedener damit waren als diejenigen, die authentische Antworten des Therapeuten erhalten hatten.
Auf Rückfrage erklärten zahlreiche der Studierenden aus der Gruppe mit den zufälligen Antworten, dass sie lange benötigt hätten, um einen tieferen Sinn hinter den Antworten des Therapeuten zu erkennen. Auf den ersten Blick hätte alles sehr widersprüchlich geklungen, doch nach einigem Nachdenken hätte es dann bei ihnen «klick» gemacht und sie hätten nun sehr viel mehr über die Komplexität der Probleme mit ihren Eltern gelernt. Bei der anderen Gruppe dagegen erklärten viele, dass ihnen die Antworten des Therapeuten nichts Neues geliefert hätten und sie ihnen deshalb nur eine Bestätigung gebracht hätte dafür, was sie ohnehin bereits wüssten.
Was bedeutet dieses Experiment für das Thema «Verschwörungstheorien»?
Ortwin Renn schreibt in seinem Buch «Gefühlte Wahrheiten», dass dieses Experiment uns zweierlei vor Augen führt:
«Zum einen erleben wir soziale Situationen als unmittelbar sinngebend. Wenn wir nicht explizit darauf aufmerksam gemacht werden, dass in dieser Situation gar keine sinnvolle Kommunikation stattgefunden hat, suchen wir so lange nach einem Sinn, bis wir ihn gefunden haben.
Zum Zweiten sind wir offenkundig fantasievoll genug, um auch bei widersprüchlichen und komplizierten Mustern der Wahrnehmung sinnvolle und kohärente Schlüsse zu ziehen. Diese Gabe ist einerseits ein grosser Gewinn, um auch bei einer Fülle von sich widersprechenden Eindrücken eine (für einen selbst) stimmige Interpretation zu finden. Andererseits kann uns diese Gabe aber auch häufig fehlleiten. Dann bilden wir aus scheinbaren Zusammenhängen kausale Beziehungsgeflechte, an denen wir umso starrsinniger festhalten, je mehr Auswand es uns gekostet hat, diese mühsam zu konstruieren.
Gerade diese Fähigkeit, offenkundig unzusammenhängende Ereignisse oder Aktivitäten mit einem ‘tieferen’ Sinn zu belegen, ist das Geheimnis der meisten Verschwörungserzählungen. Sie geben der Neigung der Menschen Nahrung, Zusammenhänge zu konstruieren, die sich über eine Reihe von zufälligen oder nur indirekt aufeinander bezogenen Beobachtungen spannen lassen. Die immerwährende Suche nach Sinn wird dadurch befriedigt und erzeugt bei den Rezipienten und Rezipientinnen dieser Theorie die innere Genugtuung, zu den ‘Wissenden’ zu gehören. Dazu kommt noch, dass man immer Ereignisse im Internet finden kann, die sich als ‘klare’ Bestätigung der einmal geglaubten Verschwörungserzählung interpretieren lassen.»
Quelle:
«Gefühlte Wahrheiten – Orientierung in Zeiten postfaktischer Verunsicherung, von Ortwin Renn, Verlag Barbara Budrich 2023. (Seiten 175 – 177)
Anmerkungen:
☛ Die Konstruktion von Zusammenhängen auch zwischen Elementen, die ursprünglich unabhängig voneinander laufen, gehört zu den Grundprinzipien von Verschwörungstheorien und drückt sich aus im Satz: «Alles ist mir allem verbunden».
☛ Eine wichtige Funktion der engagierten Sinn-Suche ist die Schaffung einer Realität, in der der Zufall weniger Gewicht hat. Siehe dazu:
Kontingenzbewältigung / Zufalls-Verleugnung
☛ Die Genugtuung, zu den «Wissenden» zu gehören, drückt sich oft dadurch aus, dass sich Verschwörungsgläubige als «Aufgewachte» wähnen, die ein «Redpilling»-Erlebnis hinter sich haben. Das sind letztlich religiöse Elemente in Verschwörungstheorien.
☛ Dass wir an Ideen und Verschwörungstheorien umso starrsinniger festhalten, je mehr Aufwand an Zeit oder Geld wir in sie gesteckt haben, ist ein häufig anzutreffendes Phänomen. Man spricht dabei von «Sunk costs» oder von der «Versunkene-Kosten-Falle».
☛ Sinn-Produktion ist eine wichtige Funktion von Verschwörungstheorien. Dabei spielt die Mustererkennung eine wichtige Rolle. Siehe dazu:
Mustererkennung als Kernelement in Verschwörungstheorien