Verschwörungsgläubige überwinden die Banalität des Zufalls durch das Hineinfantasieren einer geheimen Sinnhaftigkeit. Damit «entpuppt sich die Liebe zur Verschwörungstheorie überraschenderweise als eine neue Form der Romantik», schreibt Christian Ruch. Er verweist dazu auf den Dichter Novalis (1772 – 1801) und auf den Philosophen Rüdiger Safranski (*1945), der die Epoche der Romantik und ihren Bezug zur Gegenwart in einem ergiebigen Buch dargestellt hat.
Novalis schreibt:
«Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.»
Rüdiger Safranski nennt diese Formulierung «immer noch die beste Definition» von Romantik.
Romantik triumphiert über Realitätsprinzip
Safranski führt weiter aus:
«Die Romantik triumphiert über das Realitätsprinzip. Gut für die Poesie, schlecht für die Politik, falls sich die Romantik ins Politische verirrt. Dort beginnen die Probleme, die wir mit dem Romantischen haben.
Der romantische Geist ist vielgestaltig, […] versuchend und versucherisch, er liebt die Ferne der Zukunft und der Vergangenheit, die Überraschungen im Alltäglichen, die Extreme, das Unbewusste, den Traum, den Wahnsinn, die Labyrinthe der Reflexion. Der romantische Geist bleibt sich nicht gleich, ist verwandelnd und widersprüchlich, sehnsüchtig und zynisch, ins Unverständliche vernarrt und volkstümlich, ironisch und schwärmerisch, selbstverliebt und gesellig, formbewusst und formauflösend. Der alte Goethe sagte, das Romantische sei das Kranke. Aber auch er mochte nicht darauf verzichten».
Christian Ruch kommentiert:
«Im Grunde ist auch die Verschwörungstheorie nichts anderes als ein ‘Triumph über das Realitätsprinzip’, gleichzeitig aber irrt sie durch ‘Labyrinthe der Reflexion’, denn die Verschwörungstheorie kommt, indem sie stets Fiktion unterstellt und gleichzeitig Fiktion ist, nie zu einem Ende: Der Verschwörer hört nie auf, Verschwörer zu sein, alles spricht gegen ihn, nichts entlastet ihn – und deshalb ist es auch so mühsam, mit Verschwörungstheoretikern in einen vernünftigen Diskurs einzutreten.»
Quellen:
«Traue niemandem!», von Christian Ruch. In: Christian Metzenthin (Hg.), Phänomen Verschwörungstheorien, Theologischer Verlag Zürich 2019 (Seiten 53/54)
Romantik – eine deutsche Affäre, von Rüdiger Safranski, Hanser Verlag 2007, Seite 13.
Ergänzungen zum Stichwort Romantik & Verschwörungsglauben:
☛ Der Begriff «Romantik» ist hier nicht gemeint im Sinn des heutigen, alltäglichen Sprachgebrauchs. Dieser versteht unter «Romantik» oder «romantisch» «meist einen sentimentalen Zustand des Gefühlsreichtums, vielleicht auch der Sehnsucht. Typisch sind Wortverbindungen wie „romantische Stunden“ oder „romantisches Weinlokal“» (Quelle: Wikipedia). Gemeint ist die kulturgeschichtliche Epoche der «Romantik», die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein dauerte, und ihre Auswirkungen auf das Denken bis in die Gegenwart.
☛ Verschwörungsdenken speist sich aus sehr unterschiedlichen Quellen. Verschwörungstheorien lassen sich deshalb nicht als Resultat romantischen Denkens erklären. Trotzdem ist es sehr bemerkenswert, dass eine Reihe von romantischen Elementen im verschwörungstheoretischen Kontext auftauchen. Das zeigen die oben aufgeführten Zitate. Im Buch von Rüdiger Safranski tauchen noch weitere Begriffe auf, die gut zum Verschwörungsdenken passen. Nämlich:
Die Faszination am Geheimnis
Safransky schreibt dazu.
«Über lange Zeit hin brauchte das Geheimnis keine besondere Verteidigung. Man war, solange die empirische Erforschung der äusseren Wirklichkeit noch nicht so weit entwickelt war, vom Unerklärlichen, Dunklen, Numinosen geradezu eingehüllt. Solange die Versicherungssysteme durch Wissen, Technik und Organisation noch rudimentär waren, kam es vor allem darauf an, soviel wie möglich vom Geheimnis zu lüften, im übrigen aber sich das Geheimnisvoll-Göttliche irgendwie gewogen zu machen. Wenn moderne Gesellschaften beginnen, besser für die Sicherheit zu sorgen, wird naturgemäss die religiöse Bindung schwächer. Dann erst kann das Bedürfnis aufkommen, das Geheimnis verteidigen zu wollen, aus dem einfachen Grunde, weil es nicht mehr so bedrohlich ist. In dieser Situation wird etwas anderes bedrohlich, nämlich die Sinnlosigkeitsgefühle und die Langeweile angesichts eines vermeintlich taghell ausgeleuchteten, versicherten und reglementierten Lebens. Dann ist nicht mehr der Gott für die Sicherheit, sondern ein Gott gegen die Langeweile gefragt.
Dieser Gott gegen die Langeweile ist der romantische. Die Romantiker brauchen….nicht so sehr einen Gott, der hilft und schützt und die Moral begründet, sondern einen Gott, der die Welt wieder ins Geheimnis hüllt. Nur so lässt sich das grosse Gähnen angesichts der bis zum Nihilismus entzauberten Welt vermeiden. Die Romantiker, und das macht ihre Modernität aus, waren metaphysische Unterhaltungskünstler in einem sehr anspruchsvollen Sinn, denn sie wussten nur zu genau: Unterhalten oder genauer: unter-gehalten werden müssen die Absturzgefährdeten. So aber empfanden sich die Romantiker: als absturzgefährdet, und das macht sie zu unseren Zeitgenossen. Das vormoderne Bewusstsein konnte sich nicht vorstellen, aus der Welt zu fallen. Irgendein Jenseits gab es immer.
Erst die Moderne sieht sich ohne metaphysischen Rückhalt mit der Endlichkeit konfrontiert, sie weiss sich nicht mehr selbstverständlich von einem sinngesättigten Kosmos getragen. Das Ungeheure der Räume, in denen man sich selbst als Atom verliert; das Rauschen der Zeit; die Gleichgültigkeit der Materie gegenüber unserem Sinn suchenden Bewusstsein, die anonymen Mechanismen des gesellschaftlichen Lebens – alles dies gibt wenig Halt, es könnte einen lähmen oder in die Verzweiflung abstürzen lassen – wenn nicht etwas dagegen aufgeboten wird. Alltäglich sind es Arbeit und Gewohnheit, die den Blick verengen und die deshalb auch schützen. Den Romantikern ist das zu wenig, gegen die drohende Langeweile setzen sie die schöne Verwirrung, die sie das «Romantisieren» nennen.» (Seite 207/208)
Langeweile als Grund für Verschwörungstheorien
Interessanterweise haben Studien gezeigt, dass Langeweile ein möglicher Grund dafür sein kann, weshalb Menschen an Verschwörungstheorien glauben (Bored to fears: Boredom proneness, paranoia, and conspiracy theories, Robert Brotherton & Silan Eser, 2015, https://doi.org/10.1016/j.paid.2015.02.011).
Am Ende des 18. Jahrhunderts kam in der literarischen Kultur die Lust am Geheimnisvollen und Wunderbaren auf. Sie war das Symptom eines Mentalitätswandel, der den rationalistischen Geist zurückdrängte. Phantasien über Geheimbünde und geheime Komplotte erregten verstärkt die Öffentlichkeit. Diese Atmosphäre begünstigte das literarische Genre des «Bundesromans», der mit wohligem Grausen von mysteriösen Geheimgesellschaften und ihren Machenschaften erzählt. In den 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts erschienen über zweihundert einschlägige Titel. In Goethes «Wilhelm Meister» gibt es zum Beispiel die geheime Turmgesellschaft. Jean Pauls «Titan» und Achim von Armins «Die Kronenwächter» oder Tiecks «Wilhelm Lovell» sind ebenfalls geprägt durch die Tradition des «Bundesromans».
Bundesromane machen Verschwörungen zum Thema
Rüdiger Safranski beschreibt das stereotype Schema des Bundesromans so:
«Ein harmloser Mensch gerät in geheimnisvolle Verstrickungen; er wird verfolgt; Menschen kreuzen seinen Weg, die alles über ihn zu wissen scheinen; allmählich bemerkt er, dass er sich in dem Netz einer unsichtbaren Organisation verfangen hat…Vielleicht dringt der Protagonist in den Bund vor, vielleicht sogar bis in seine innersten Verliese, schwarze Höhlen mit flackerndem Licht und weissen Gesichtern bekommt er dort zu sehen. Manchmal wird er eingeweiht in die Mysterien eines verborgenen Wissens oder einer verhüllten Absicht, lernt die Führer kennen, niemals die obersten. Bei denen, die sich zu erkennen geben, handelt es sich zu seinem Entsetzen oft um Menschen, die er schon lange kennt, aber bisher in einem anderen Licht gesehen hat. In diesen Geschichten gibt es manchmal den guten und den bösen Bund, und wenn erzählt wird, wie diese beiden im Kampf miteinander liegen, dann wird das Ganze vollends undurchsichtig…»
Der reale Anknüpfungspunkt dieser Verschwörungsgeschichten ist das Wirken der geheimen Bünde der Jesuiten, der Freimaurer, der Illuminaten und der Rosencreutzer. Die darauf aufbauenden geheimbündlerischen Verschwörungstheorien glauben zu wissen, wie die Geschichte funktioniert, wo ihre Drahtzieher sitzen und wie sie gemacht wird. Die damaligen Verschwörungsgläubigen wussten alles über die Französische Revolution, beispielsweise, dass sie von Ingolstadt aus gesteuert würde, denn dort befand sich bekanntlich das Hauptquartier der Illuminaten…
Die Geheimbundromane, die damals den Buchmarkt überschwemmten, beherrschten die Kunst, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen zu geben, wie es Novalis formuliert hat.
Quelle: Rüdiger Safransky, Romantik (Seiten 54/55/56)
Schwarze Romantik
Dass es Verbindungen zwischen romantischem Denken und Verschwörungstheorien bzw. Verschwörungsdenken gibt, zeigen diese Ausführungen gut auf. Dazu kommt noch, dass es auch eine «Schwarze Romantik» gibt. Diese Unterströmung innerhalb der Romantik kam am Ende des 18. Jahrhunderts auf. Sie betont irrationale Facetten und zeigt sich fasziniert vom menschlichen Wahnsinn, vom Bösen, Satanischen und Dämonischen. Solche Aspekte tauchen auf in gegenwärtigen Verschwörungstheorien auf. Beispiele dafür sind die Legenden über rituelle Kindermorde, wie sie im Umfeld von QAnon und Pizzagate herumgeboten werden.
Solche kruden Verschwörungstheorien werden seit einiger Zeit auch von verwirrten Promis verbreitet. Siehe dazu zum Beispiel:
Sänger Xavier Naidoo streut krude Verschwörungstheorie um Kindermorde wegen «Adrenochrom»
Historisch steht dahinter die antisemitische Ritualmordlegende.