Verschwörungstheorien waren schon immer ein Mittel, mit dem Mächtige politische Ziele verfolgt haben. Ein Beispiel für eine solche Verschwörungstheorie ist der „Röhm-Putsch“ aus dem Jahr 1934. Urheber und Verbreiter dieser Verschwörungstheorie war Adolf Hitler. Ernst Röhm war Führer der Sturmabteilung (SA), die sich bis Mitte 1934 mit 4,5 Millionen Mitgliedern zu einem Machtfaktor im Dritten Reich entwickelt hatte. Mit Unterstützung von Heinrich Himmler, Joseph Goebbels und Hermann Göring ließ Hitler Röhm und weitere SA-Führer am 30. Juni 1934 verhaften und töten. Das NS-Regime begründete die Morde mit der Verschwörungstheorie, dass eine Gruppe „homosexueller Rabauken“ einen Putsch gegen den Führer geplant habe. Die Bezeichnung „Röhm-Putsch“ ist also irreführend und entstammt der NS-Terminologie. Korrekter wäre die Bezeichnung „Röhm-Massaker“.
Die ursprünglich als «Saalschutz» und für Strassenkämpfe gegründete SA hatte wesentlich zur Machtergreifung der Nationalsozialisten beigetragen. SA-Chef Ernst Röhm forderte allerdings eine „zweite Revolution“ mit einer radikalen sozialen Umgestaltung. Die SA-Führung legte großen Wert auf den sozialistischen Aspekt und wollte einen Umbau der Gesellschaft sowie Enteignungen nach dem 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920.
In „seiner“ SA sah Röhm den Kern einer neu zu gründenden „Volksmiliz“, in die er auch die Reichswehr einverleiben wollte. Die traditionsbewusste Reichswehr, die gemäss dem Versailler Vertrag von 1919 allerdings nur 100.000 Mann umfassen durfte, widersetzte sich dieser Idee entschieden. Auch die NS-Oberen wollten der SA nur die Rolle einer Ordnungstruppe der Partei zugestehen. Zudem rivalisierte die von Heinrich Himmler ab 1929 zu einer ordensähnlichen Eliteformation der Nationalsozialisten aufgebaute Schutzstaffel (SS) mit der SA. Die SS wuchs bis zum Ende des Jahres 1933 auf rund 209 000 Mitglieder an. Sie schürte gezielt Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch der SA und betonte die – seit langem bekannte – homosexuelle Veranlagung Röhms.
Rivalitäten im NS-Staat
Inmitten dieser schwelenden Konflikte musste sich Adolf Hitler entscheiden. Gegen Ernst Röhm und seine sozialrevolutionären Vorstellungen sprach sein unverhüllt vorgetragener Machtanspruch. Aber auch innerparteiliche Rivalen Röhms – insbesondere Heinrich Himmler und Hermann Göring – bestärkten Hitler in seinem Entschluss, nicht die SA, sondern die Reichswehr zu einer modernen, möglichst rasch kriegsfähigen Armee auszubauen.
Hitler befahl eine umfassende «Säuberungsaktion». Die NS-Propaganda rechtfertige sie mit der Verschwörungstheorie vom «Röhm-Putsch».
Ausgeführt wurden die politischen Morde durch Kommandos der SS mit Unterstützung der Gestapo und der Reichswehr. Die gesamte SA-Führung wurde durch SS-Einheiten liquidiert. Darüber hinaus wurden „alte Rechnungen“ beglichen, denen in Ungnade gefallene „alte Kämpfer“ der NSDAP ebenso zum Opfer fielen wie eine Reihe von NS-Gegnern. Ausserdem gab es aufgrund von Verwechslungen auch Zufallsopfer. Insgesamt rechnen Historiker bei den Getöteten mit etwa 90 namentlich bekannten Personen und einer Gesamtzahl von vermutlich 150–200.
Propaganda nach dem «Röhm-Putsch»
Verwirrend für die Öffentlichkeit war, dass die Opfer der «Säuberungsaktion» aus politisch unterschiedlichen Gruppen kamen. Darüber hinaus war die Informationspolitik der NS-Regierung darauf ausgerichtet, die Umstände zu verschleiern. Adolf Hitler setzte auf die Wirkung von sexueller Denunziation. Er schürte moralische Entrüstung, damit politische Fragen nicht aufkamen. Hitler erklärte, durch „schwerste Verfehlungen“ Röhms gezwungen worden zu sein, ihn abzusetzen. Eine „Erklärung der Reichspressestelle der NSDAP“ nannte die „bekannte unglückliche Veranlagung“ Röhms als Grund für „schwerste Belastungen“, denen der Führer ausgesetzt gewesen sei. Schilderungen der Verhaftungsszenen sollten sittliche Entrüstung auslösen. Homosexualität als klassisches Muster sexueller Denunziation kam in weiteren Stellungnahmen zum Einsatz: «Die Durchführung der Verhaftung zeigte moralisch so traurige Bilder, dass jede Spur von Mitleid schwinden musste. Einige SA-Führer hatten sich Lustknaben mitgenommen. Einer wurde in der ekelhaftesten Situation aufgeschreckt und verhaftet.»
Sexuelle Denunziation
Die Vorgänge um den angeblichen «Röhm-Putsch» wurden in der Propaganda auch als „Säuberungsaktion“ gegen homosexuelle Praktiken bezeichnet, die über Röhm hinaus in der SA verbreitet gewesen seien. Adolf Hitler erklärte die Morde vor dem Reichstag damit, dass „sich allmählich aus einer bestimmten gemeinsamen Veranlagung heraus in der SA eine Sekte zu bilden begann, die den Kern einer Verschwörung nicht nur gegen die normalen Auffassungen eines gesunden Volkes, sondern auch gegen die staatliche Sicherheit abgab.“ Bei dieser Verknüpfung der angeblichen Putschabsichten Röhms mit einer homosexuellen Verschwörung handelte es sich jedoch nicht nur um „Propaganda“, sondern um ein von Heinrich Himmler ernsthaft vertretenes Bedrohungsszenario, das eine massive Verfolgungspolitik gegenüber Homosexuellen einleitete.
Die Mordaktion um den „Röhm-Putsch“ – ein Grossverbrechen des NS-Regimes
Nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 begann das NS-Regime zügig mit der Verfolgung politischer Gegner. Sie wurden verhaftet und in Gefängnisse oder Konzentrationslager eingewiesen. Die Morde rund um den angeblichen «Röhm-Putsch» waren aber das erste, überaus deutliche Grossverbrechen des NS-Regimes.
Die offizielle Berichterstattung stellte Hitler als Opfer eines hinterhältigen Putsches dar. Am 3. Juli, also im Nachhinein, wurden die Morde formal durch ein von Hitler erlassenes Gesetz legalisiert. Dieses «Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr» enthielt einen einzigen Artikel: «Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.»
Rechtsbruch im Nachklang zum Röhm-Putsch
Damit war Deutschland endgültig zu einem Staat mit Willkürherrschaft geworden, in dem die Meinung des Führers Gesetz war und das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot nicht mehr galt. Adolf Hitler schwang sich durch die Erschiessungen ohne Gerichtsurteil zum Richter über Leben und Tod auf. Er wurde in seinen eigenen Worten zum «obersten Gerichtsherren». Dadurch war die Justiz offen erkennbar gleichgeschaltet.
Die Verschwörungstheorie vom angeblichen «Röhm-Putsch» diente der Rechtfertigung für die damit verbundenen Mordaktionen. Die darin involvierte Reichswehr konnte sich nun gegen die Konkurrenz der SA durchsetzen. Um auch in Zukunft der Gunst Adolf Hitlers sicher zu sein, ordnete Reichskriegsminister Werner von Blomberg noch am Todestag von Reichspräsident Paul von Hindenburg (2. August 1934) die Vereidigung der Reichswehr auf die Person des „Führers und Reichskanzlers“ an. Das war ein weiterer Schritt hin zum totalen Führerstaat. Auch die SS setzte sich gegenüber der geschwächten SA durch und behauptete sich gegenüber der Reichswehr. Trotz Hitlers Versprechen, dass die Reichswehr das militärische Monopol behalten solle, bekam die SS schon wenige Wochen nach den Morden die Erlaubnis, eigene bewaffnete Verbände aufzustellen. Die Ereignisse um den «Röhm-Putsch» hatten also weitreichende Folgen.
Die Frage der Verantwortung
Der Rechtsbruch und die Verbrechen rund um den «Röhm-Putsch» waren so deutlich zu sehen, dass sie Fragen nach der moralischen Verantwortung aufwarfen. Insbesondere die weitgehend widerspruchlose Hinnahme durch die Organe der regulären Justiz und ihre Vertreter, durch die Armee sowie durch die Masse des deutschen Volkes als Ganzes gab Anlass zu Kritik. Wikipedia schreibt dazu:
«Die diesem Vorwurf zugrundeliegende Argumentation lautete dabei in der Regel, dass die genannten Personenkreise dadurch, dass sie trotz dieses ersten evidenten Großverbrechens der NS-Führung nicht gegen das nationalsozialistische Regime aufbegehrt und dieses gestürzt hätten, alle in den nachfolgenden Jahren erfolgten weiteren Verbrechen der Nationalsozialisten überhaupt erst ermöglicht hätten und dass sie sich somit aufgrund dieser Unterlassungssünde, der NS-Führung in den Arm zu fallen, nachdem diese ihren verbrecherischen Charakter am 30. Juni 1934 unter Beweis gestellt hatte, an all diesen weiteren Verbrechen moralisch mitschuldig gemacht hätten. Die Führung der deutschen Armee und die Träger des Justiz- und Verwaltungsapparates, aber auch die Masse des deutschen Volkes trügen also eine Mitverantwortung für alle weiteren Mordtaten der Nationalsozialisten, weil sie diese nach dieser ersten vor den Augen der Öffentlichkeit begangenen großen Mordaktion weiterhin an der Macht belassen hätten, obwohl sie es eben aufgrund dieses Ereignisses hätten besser wissen müssen.
So schrieb der Rechtsanwalt Werner Pünder, der wegen seiner Proteste gegen die am 30. Juni 1934 erfolgte Ermordung des Katholikenführers Erich Klausener 1935 von der Gestapo in Haft genommen wurde, nach dem Krieg:
„Den 30. Juni 1934 habe ich mehrfach […] schriftlich und mündlich als eine weltgeschichtliche Zäsur bezeichnet. Damals wäre es noch möglich gewesen, den Nationalsozialismus in seine Schranken zurückzuweisen, wenn das deutsche Volk in seiner Mehrheit den Mut gehabt hätte, die ungesetzlichen Gewalttaten des Regimes nicht nur im Stillen zu verurteilen, sondern Widerstand zu leisten.“»
Quellen:
Beitrag «Röhm-Putsch» auf Wikipedia
Beitrag «Röhm-Putsch» auf LeMo (Lebendiges Museum online, Deutsches Historisches Museum, Berlin)
Der «Röhm-Putsch» ist ein drastisches Beispiel für die Folgen politischer Verschwörungstheorien.
Es stellt sich die Frage, ob an diesem Punkt eine der letzten Gelegenheiten gewesen wäre, das weitere Unheil zu stoppen, wenn dem Regime hier Grenzen gesetzt worden wären.
Aber auch in ihren weniger einschneidenden Varianten entfalten Verschwörungstheorien in der Politik oft gravierende Wirkungen. Deshalb ist es wichtig, ihnen durch Förderung von politischer Bildung und von Medienkompetenz den Boden zu entziehen.
Welche politischen Interessen stehen hinter Verschwörungstheorien?
Rund um den „Röhm-Putsch“ und überhaupt im NS-Regime spielt selbstverständlich auch Demagogie eine zentrale Rolle. Mehr dazu hier:
Demagogie & Verschwörungstheorien