Der Reichstagsbrand ist ein Beispiel dafür, wie eine Verschwörungstheorie in die Welt gesetzt, bewirtschaftet und politisch instrumentalisiert wird.
In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933, einen knappen Monat nach der sogenannten «Machtergreifung» durch Hitler, brannte in Berlin das Reichstagsgebäude. Der Plenarsaal brannte vollständig aus. Polizei und Feuerwehr gingen rasch von Brandstiftung aus. Noch am Tatort wurde der Holländer Marinus van der Lubbe als Täter verhaftet, ein bekennender Anarchist und Anhänger eines Rätesystems. Die genauen Hintergründe sind bis heute nicht eindeutig geklärt.
Bis zu seiner Hinrichtung bestand van der Lubbe darauf, den Reichstag allein in Brand gesetzt zu haben. Seine Alleintäterschaft schien schon damals vielen Zeitgenossen unwahrscheinlich. Diese Frage wird immer noch kontrovers diskutiert. Kritiker der Alleintäterthese gehen von einer unmittelbaren Tatbeteiligung der Nationalsozialisten aus. Zu gut passte der Reichstagsbrand nämlich in die Strategie der NSDAP bei ihrer Eroberung der Macht über Deutschland, und Hitler sprach sogleich von einem kommunistischen Komplott. Hätten tatsächlich die Nazis die Brandstiftung organisiert, hätten wir es mit einer False-Flag-Operation zu tun, einer «Operation unter falscher Flagge».
Andererseits reagierten führende Nationalsozialisten auf die Brandmeldung zunächst ungläubig. Joseph Goebbels hielt in seinem Tagebuch den Reichtagsbrand «für eine tolle Phantasiemeldung».
Alfred Rosenberg, der Chefredakteur des Parteiorgans «Völkischer Beobachter» und NSDAP-Ideologe, sage zu dem britischen Journalisten Sefton Delmer, als die beiden am 27. Februar 1933 gegen 22 Uhr vor dem lichterloh brennenden Reichstag in Berlin standen: «Ich hoffe, es ist nicht das Werk unserer Burschen. Es ist genau eines jener verdammt blöden Stücke, die ihnen ähnlich sehen.»
Nationalsozialisten nutzen den Reichstagsbrand
Klar ist jedoch, dass die Nationalsozialisten die Möglichkeiten, die ihnen der Reichstagsbrand bot, blitzschnell erfassten. Der ehemalige Gestapo-Chef Rudolf Diels gibt die Reaktion Hitlers am Brandort so wieder: «Es gibt jetzt kein Erbarmen; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht. Das deutsche Volk wird für Milde kein Verständnis haben. Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er angetroffen wird. Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden.»
Noch am Abend des Reichstagsbrands hatten der damalige preußische Innenminister Hermann Göring und andere NSDAP-Funktionäre rasch verbreitet, es handle sich um einen Aufstandsversuch der Kommunistischen Partei (KPD). Diese Behauptung gilt in der Geschichtsforschung heute als widerlegt. Für eine Beteiligung der KPD fehlt nur schon ein stichhaltiges Motiv. Schließlich war zum Zeitpunkt der Tat bereits absehbar, dass das Feuer der Hitler-Regierung einen willkommenen Vorwand liefern würde, brutal gegen politische Gegner vorzugehen und etwa die Mandate der KPD-Abgeordneten zu annullieren.
Und genau das passierte auch: In den Stunden nach dem Reichstagsbrand verhaftete die Polizei und die sogenannte Sturmabteilung der NSDAP (SA) mehrere Tausend Menschen, mehrheitlich Kommunisten, darunter zahlreiche KPD-Abgeordnete, aber auch Sozialdemokraten und linke Intellektuelle. In den folgenden Wochen folgten Zehntausende Oppositionelle. Weil die Gefängnisse schnell überfüllt waren, errichtete die SA provisorische Konzentrationslager.
Nach Reichstagsbrand: Ausnahmezustand verhängt
Der Reichstagsbrand erlaubte es zudem der Regierung Hitler, nur vier Wochen nach ihrer Ernennung den zivilen Ausnahmezustand zu verhängen, der bis zum 8. Mai 1945 andauerte.
Auf Vorschlag der Hitler-Regierung erliess der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg schon am 28. Februar die Verordnung „zum Schutz von Volk und Staat“.
Diese sogenannte «Reichtagsbrandsverordnung» sollte der „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ dienen. De facto ermöglichte sie den NS-Terror gegen politische Gegner der Regierung. Mit ihr bekam die Regierung diktatorische Vollmachten: Alle wichtigen Grundrechte der Weimarer Verfassung wurden außer Kraft gesetzt, so etwa die Freiheit der Person, die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Vereins- und Versammlungsfreiheit. Der Staat schränkte auch das Postgeheimnis sowie das Eigentumsrecht ein und untersagte regimekritische Zeitungen. Die Notverordnung gestattete der NSDAP-Regierung ebenfalls, „Befugnisse der obersten Landesbehörde vorübergehend wahr[zu]nehmen“ und leistete damit Vorarbeit für die Gleichschaltungs- und Zentralisierungsstrategie des NS-Regimes bis 1934.
Den Machthabern war es mit dieser «Reichtagsbrandverordnung» möglich, die Arbeit missliebiger Parteien vollständig zu verhindern – als erstes traf es die KPD, weitere folgten. Politische Gegner konnten ohne großen Aufwand willkürlich verhaftet und in „Schutzhaft“ gesetzt werden. Der Rechtsstaat war damit weitgehend beseitigt.
Totalitäre Diktatur etabliert
Die «Reichtagsbrandverordnung» habe geholfen, „eine moderne totalitäre Diktatur zu etablieren“, schrieb der Mainzer Historiker Michael Kißener.
Die Verhaftungen und die faktische Ausschaltung der KPD hatten auch einen stark einschüchternden Effekt auf den Wahlkampf. Auch SPD und Zentrumspartei wurden behindert. Die NSDAP schaffte mit 43,9 Prozent der Stimmen am 5. März zwar nicht die absolute Mehrheit. Anders als noch in den ersten Wochen nach Hitlers Ernennung zum Kanzler verfügten NSDAP und DNVP nun aber zusammen über eine Mehrheit.
Im Nachklang zum Reichstagsbrand wurden wilde Verschwörungstheorien publiziert und bündelweise gefälschte „Dokumente“ in die Öffentlichkeit gebracht.
Im Herbst 1933 fand vor dem Reichsgericht in Leipzig der Prozess zum Reichstagsbrand statt. Van der Lubbe sowie der Vorsitzende der deutschen KPD-Reichstagsfraktion und drei bulgarische Kommunisten wurden angeklagt. Der Prozess wurde von der NSDAP-Regierung von Anfang an beeinflusst und auch international aufmerksam beobachtet.
Freisprüche und ein Todesurteil
Zum Schluss konnte sich die Argumentation der Anklage nicht durchsetzen und das Gericht sprach die Angeklagten – trotz enormen Drucks des NS-Regimes – Ende 1933 frei, mit Ausnahme van der Lubbes, der im Januar 1934 hingerichtet wurde. Die Verschwörungstheorie der Nazis, wonach die Kommunisten hinter dem Reichstagsbrand stecken, kam beim Gericht also nicht an. Es kam zum Schluss: «Die Frage, ob van der Lubbe die Tat allein ausgeführt hat, dürfte bedenkenlos zu bejahen sein. Die Ermittlungen, der objektive Tatbestand und die genauen Feststellungen des Täters selbst beweisen dies.» Die ermittelnden Beamten und die Richter zeigen hier noch eine eindrückliche Unabhängigkeit, die in späteren Phasen des Regimes nicht mehr möglich war.
Quellen:
Ketzer, Chemtrails und Corona; Ingo Grabowsky, HEEL Verlag 2020
Reichstagsbrand – auf dem Weg in die Diktatur (Bundeszentrale für politische Bildung, bpb)
Der Reichstagsbrand brauchte keine Verschwörung (Welt online)
Anmerkungen:
☛ Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker bestimmen oft die Gruppe der Verschwörer mit der Frage «Cui bono?» (Wem nutzt es?). Wem ein Ereignis nützt, der ist’s gewesen! Beim Reichstagsbrand wäre also die Antwort klar: Das Ereignis hat den Nationalsozialisten genutzt, also stecken sie dahinter. Dieses Beispiel zeigt, dass die «Cui bono?»-Frage alles andere als eine überzeugende Antwort gibt. Ein Ereignis kann auch von jemand anderem genutzt werden, so wie es offenbar beim Reichstagsbrand der Fall war.
☛ Eine weitere Verschwörungstheorie, die von den Nationalsozialisten erfunden und bewirtschaftet wurde, ist der angebliche Röhm-Putsch.
☛ Siehe auch: Welche politischen Interessen stehen hinter Verschwörungstheorien?