Der englischsprachige Begriff conspiracy theory ist bereits für das Jahr 1869 und danach ab 1870 immer häufiger belegbar. Der deutschsprachige Begriff „Verschwörungstheorie“ wurde schon 1787 und danach 1870 verwendet. Die ersten Versuche einer genaueren Fassung des Begriffs «Verschwörungstheorie» stammen jedoch vom österreichischen Philosophen Karl Popper (1902 – 1994).
Mit dem Beginn der Neuzeit schwand die Allmacht der Kirche und mit ihr die religiösen Erklärungsmuster für alles, was geschah, insbesondere auch für schlimme Ereignisse. Bisher wurde alles mit Gottes Wille begründet, nun sollten rationale Erklärungen an dessen Stelle treten. Dabei entstanden aber auch Sinndefizite und Menschen griffen weiterhin auf religiös geprägte Erklärungsmuster zurück. Anstelle von Gott als Lenker im Hintergrund gerieten Menschen als «Strippenzieher» in den Fokus des Verdachts. Anknüpfend an diese Entwicklungen beschreibt Popper in seinem Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945) eine «Verschwörungstheorie der Gesellschaft».
Damit meint Popper Versuche, soziale Phänomene und historische Ereignisse durch den Nachweis zu erklären, „dass gewisse Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses [Ereignisses] interessiert waren und dass sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. (Ihre Interessen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden).“
Verschwörungstheorien entspringen der Annahme, dass, „was immer sich in einer Gesellschaft ereignet, das Ergebnis eines Plans mächtiger Individuen oder Gruppen ist“. Gemäss Popper sind es meist unangenehme Ereignisse wie Krieg, Armut oder Mangel an etwas, die von der Verschwörungstheorie als geplant bezeichnet werden. Er sieht dabei die „Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens“ am Werk., wobei „mächtige Männer oder Verbände, deren böse Absichten für alles Übel verantwortlich sind“, an die Stelle von Göttern treten. Als Beispiele nennt Popper „die Weisen von Zion, die Kapitalisten oder die Imperialisten“. Popper unterstreicht jedoch, dass es in der Tat real existente Verschwörungen gebe. Die «Verschwörungstheorie der Gesellschaft» werde allerdings dadurch widerlegt, dass ihre Grundannahme, alle Handlungsfolgen seien durch die Verschwörer geplant und gewollt, unrealistisch sei.
Drei Zitate von Karl Popper zur «Verschwörungstheorie der Gesellschaft» sollen illustrieren, was gemeint ist:
Erstes Popper-Zitat
Karl Popper hat in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde über die «Verschwörungstheorie der Gesellschaft» geschrieben:
«Diese Theorie behauptet, dass die Erklärung eines sozialen Phänomens in der Entdeckung besteht, dass Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und dass sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. (Ihre Interessen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden.)
Diese Ansicht von den Zielen der Sozialwissenschaften entspringt natürlich der falschen Theorie, dass, was immer sich in einer Gesellschaft ereignet, das Ergebnis eines Plans mächtiger Individuen oder Gruppen ist. Besonders Ereignisse wie Krieg, Arbeitslosigkeit, Armut, Knappheit, also Ereignisse, die wir als unangenehm empfinden, werden von dieser Theorie als gewollt und geplant erklärt. […] In ihren modernen Formen ist die Theorie ein typisches Ergebnis der Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens. […] Der Glaube an die homerischen Götter, deren Verschwörungen die Geschichte des trojanischen Krieges erklären, ist verschwunden. Die Götter sind abgeschafft. Aber ihre Stelle nehmen mächtige Männer oder Verbände ein – unheilvolle Machtgruppen, deren böse Absichten für alle Übel verantwortlich sind, unter denen wir leiden – wie die Weisen von Zion, die Kapitalisten, die Monopolisten oder die Imperialisten.
Ich will nicht sagen, dass Verschwörungen sich niemals ereignen. Im Gegenteil: Verschwörungen sind ein typisches soziales Phänomen. Sie werden zum Beispiel immer dann wichtig, wenn Menschen an die Macht kommen, die an die Verschwörungstheorie glauben. Und Menschen, die allen Ernstes zu wissen glauben, wie man den Himmel auf Erden errichtet, werden aller Wahrscheinlichkeit nach die Verschwörungstheorie übernehmen, und sie werden sich in eine Gegenverschwörung gegen nicht existierende Verschwörer verwickeln lassen.»
(Zitiert nach: Umberto Eco, Verschwörungen, Hanser 2021, S. 12)
Zweites Popper-Zitat
Im Jahr 1969 präzisierte Karl Popper dann in Conjectures and Refutations:
«Diese Theorie ist viel primitiver als die meisten Formen des Theismus; sie ähnelt Homers Gesellschaftstheorie. Homer sah die Macht der Götter so, dass alles, was auf dem Feld von Troja geschah, nur die verschiedenen Verschwörungen auf dem Olymp widerspiegelte. Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft ist nur eine Variante des Theismus, eines Glaubens an Götter, deren Launen und Willen alles beherrscht. Sie kommt davon, dass man Gott aufgibt und dann die Frage stellt: ‘Wer nimmt seinen Platz ein?’ Sein Platz wird dann besetzt durch verschiedene mächtige Menschen und Gruppen – durch finstere Interessengruppen, denen dann unterstellt wird, dass sie die grosse Depression geplant haben, und alle Übel, an denen wir leiden. [….] Nur wenn Verschwörungstheoretiker an die Macht kommen, bekommt sie einen gewissen Erklärungswert für die tatsächlichen Ereignisse [….]. Zum Beispiel, als Hitler an die Macht kam, der an den Mythos der Verschwörung der Weisen von Zion glaubte, versuchte er sogleich, diese eingebildete Verschwörung mit seiner eigenen, wirklichen Verschwörung zu bekämpfen.»
(Zitiert nach: Umberto Eco, Verschwörungen, Hanser 2021, S. 13)
Drittes Popper-Zitat
Karl Popper beschreibt in folgendem Zitat die «Verschwörungstheorie der Gesellschaft» als philosophisches Vorurteil:
«Es gibt eine sehr einflussreiche philosophische Auffassung vom Leben, die meint, irgend jemand müsse verantwortlich sein, wenn etwas Böses (oder etwas äusserst Unerwünschtes) in dieser Welt geschieht: Jemand muss es getan haben, und zwar absichtlich. Diese Auffassung ist sehr alt. Bei Homer waren die Eifersucht und der Zorn der Götter für die meisten der schrecklichen Vorkommnisse verantwortlich, die im Feld vor Troja und in der Stadt selbst geschahen; und Poseidon war für die Irrfahrten des Odysseus verantwortlich. Später, im christlichen Denken, ist der Teufel für das Böse verantwortlich. Und im Vulgär-Marxismus ist es die Verschwörung habgieriger Kapitalisten, die das Kommen des Sozialismus und die Errichtung des Himmelreiches auf Erden verhindert.
Die Theorie, dass Krieg, Armut und Arbeitslosigkeit die Folgen böser Absichten und finsterer Pläne sind, ist ein Teil des Alltagsverstandes, aber sie ist unkritisch. Ich habe diese unkritische Theorie des Alltagsverstandes die Verschwörungstheorie der Gesellschaft genannt. (Man könnte auch von der Verschwörungstheorie der Welt überhaupt sprechen: Man denke an den Blitze schleudernden Zeus.) Die Theorie ist weitverbreitet. Sie hat, als Suche nach einem Sündenbock, Verfolgungen und fürchterliche Leiden hervorgerufen.
Ein wichtiger Zug der Verschwörungstheorie der Gesellschaft ist, dass sie zu wirklichen Verschwörungen ermutigt. Doch eine kritische Untersuchung zeigt, dass Verschwörungen kaum je ihr Ziel erreichen. Lenin, der die Verschwörungstheorie vertrat, war ein Verschwörer; auch Mussolini und Hitler. Aber Lenins Ziele wurden in Russland nicht verwirklicht, so wenig wie Mussolinis oder Hitlers Ziele in Italien oder in Deutschland.
Sie alle wurden Verschwörer, weil sie unkritisch an eine Verschwörungstheorie der Gesellschaft glaubten.»
Quelle: «Auf der Suche nach einer besseren Welt», von Karl Popper, Serie Piper, 1984, (S. 202).
Quellen ausserdem:
Beitrag zu «Verschwörungstheorien» auf Wikipedia.
«Freimauertum, Zionismus und konspirative Eliten: Die Wirkung von Verschwörungstheorien auf demokratische Einstellungen», Masterarbeit von Marlene Schönberger, Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München 2017
Weitere Anmerkungen:
☛ Popper’s Aussagen zeigen, dass Geschichte nicht so planbar und kontrollierbar ist, wie Verschwörungstheoretiker sich das vorstellen. Verschwörungstheorien setzen ein mechanistisches Welt- und Menschenbild voraus, das nicht realistisch ist. Siehe dazu:
Mechanistisches Weltbild der Verschwörungstheoretiker
☛ Die «Verschwörungstheorie der Gesellschaft» geht auch von Bosheit aus, wenn schlimme Dinge passieren. Dummheit, Unfähigkeit, Zufall und Schlamperei, die als Ursachen in den meisten Situationen wahrscheinlicher sind, blenden Verschwörungstheoretiker gerne aus. Siehe dazu:
Hanlon’s Rasiermesser / Hanlon’s Razor
☛ Popper’s These, dass Verschwörungstheorien sich ausbreiten in der Nachfolge von Religionen, die im Rückgang befindlich sind, ist von verschiedenen Seiten widersprochen worden. Verschwörungstheorien leben auch bestens mit Religionen zusammen.
☛ Von Verschwörungsgläubigen ist immer wieder zu hören, der Begriff «Verschwörungstheorie» sei von der CIA erfunden worden, um kritische Fragen zu den Hintergründen rund um den Mord an John F. Kennedy zu delegitimieren. In Wahrheit ist der Begriff «Verschwörungstheorie» deutlich älter und wie oben gezeigt, hat sich Karl Popper ausführlicher damit befasst. Verschwörungsgläubige kommen immer wieder mit der Behauptung, die CIA habe den Begriff «Verschwörungstheorie» erfunden, weil sie diesen dadurch diffamieren können.
Siehe dazu:
Wurde der Begriff «Verschwörungstheorie» tatsächlich von der CIA erfunden?