Der Begriff «Paranoia» bezeichnet im engeren Sinne eine psychische Störung, in deren Mittelpunkt Wahnbildungen stehen. Häufiger wird das Adjektiv paranoid verwendet, das auf Verfolgungsängste oder Verfolgungswahn hinweist. Die betroffenen Personen leiden an einer verzerrten Wahrnehmung ihrer Umgebung, der sie eine feindselige bis im Extremfall bösartig verfolgende Haltung ihnen gegenüber zuschreiben. Als Folge davon entsteht ängstliches oder aggressives Misstrauen bis hin zur Überzeugung von einer Verschwörung anderer gegen sich.
Die Patientinnen und Patienten haben das Gefühl, verfolgt zu werden, und entwickeln persönlich eingefärbte Verschwörungstheorien. Ein paranoider Mensch glaubt häufig dass andere beabsichtigen, ihn zu schädigen, zu betrügen oder auch zu töten. Oft präsentiert er dafür auch „Beweise“, die für ihn völlig überzeugend scheinen, für Außenstehende dagegen überhaupt nichts aussagen. Diese Überzeugungen sind wahnhaft und Betroffene sind durch nichts von ihnen abzubringen. Rationale Argumente und Überzeugungsversuche von Außenstehenden bleiben erfolglos und sind häufig sogar kontraproduktiv, da sie das Misstrauen der paranoiden Person nur noch verstärken.
Diese Beschreibung zeigt, dass es Ähnlichkeiten gibt zwischen Paranoia und den allgemeinen Verschwörungstheorien, wie sie auf dieser Website sonst beschrieben werden. Auch Verschwörungsgläubige sind oft felsenfest davon überzeugt, dass ihnen andere Schaden zufügen wollen und sie zeigen häufig eine gehörige Portion Misstrauen.
Es gibt zwischen Paranoia im klinischen Sinn und dem Glauben an allgemeine Verschwörungstheorien aber auch wichtige Unterschiede, die in diesem Beitrag ebenfalls dargelegt werden sollen.
Verschwörungsgläubige leiden in der Regel nicht an Paranoia im psychiatrischen Sinn
Als erster einen «paranoiden Stil» mit Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht hat der liberale US-amerikanische Historiker Richard Hofstadter (1916 – 1970). Er veröffentliche 1964 einen berühmt gewordenen Aufsatz mit dem Titel « The Paranoid Style in American Politics». Darin stellte er jedoch klar, dass er Verschwörungstheoretiker nicht für klinisch geistesgestört hielt, und erklärte anschliessend, er «spreche deshalb von paranoidem Stil, weil kein anderes Wort die Gefühlslage aus erregter Übertreibung, Argwohn und Verschwörungsphantasie, die ich meine, angemessen wiedergibt».
Das Phänomen sei natürlich nichts Neues und könne zurückverfolgt werden zu Schriften über die Freimaurer oder die Illuminati aus dem 18. Jahrhundert. Es sei jedoch im 20. Jahrhundert wiederbelebt worden, vor allem während der McCarthy-Ära nach dem Zweiten Weltkrieg. Die verzerrte Wahrnehmung Senator McCarthys, der in jeder Ecke der amerikanischen Gesellschaft verborgene Kommunisten vermutete, sei ein treffendes Beispiel für diesen paranoiden Stil, der annehme, dass ein böswilliger Feind insgeheim die Geschehnisse manipuliere, um die soziale und politische Ordnung zu untergraben.
Richard Hofstadter fuhr folgendermassen fort in der Charakterisierung des «paranoid Style» und damit der Feindbilder des Verschwörungstheoretikers:
«Anders als der Rest von uns ist der Feind nicht in den Mühlen des riesigen Mechanismus der Geschichte gefangen….Er bezwingt den Mechanismus der Geschichte, fabriziert ihn sogar, und versucht den normalen Gang der Geschichte in bösartiger Absicht abzulenken. Er entfacht Krisen, Bankenpaniken, wirtschaftliche Depressionen, Katastrophen, freut sich an dem Elend, das er angerichtet hat, profitiert von ihm. Das paranoide Geschichtsbild ist entschieden persönlich: Entscheidende Ereignisse werden nicht als Teil des Stroms der Geschichte gesehen, sondern als Resultate des Willens von jemandem.»
Zwischenbemerkung: Dass die angeblichen Verschwörer die Geschichte lenken können, ist ein verbreiteter Irrglaube von Verschwörungsgläubigen. Mehr dazu hier:
Pedanterie und Pseudowissenschaftlichkeit
Paranoide Schriften, schreibt Hofstadter weiter, zeichneten sich durch ein überraschend hohes Mass an Pedanterie und Pseudowissenschaftlichkeit aus. Auffallend sei «der Gegensatz zwischen ihren phantasierten Schlussfolgerungen und der beinah rührenden Sorge um Faktizität, die sie ausnahmslos an den Tag legen. Sie bemühen sich geradezu heldenhaft um Belege, die beweisen, dass das Unglaubliche das Einzige ist, was man glauben kann.»
Soviel zum «paranoid Style» nach Richard Hofstadter. Aber wo liegt der Unterschied zur Paranoia im klinischen Sinn? Das haben Katharina Nocun und Pia Lamberty in ihrem Buch «Fake Facts» auf den Punkt gebracht:
«Um es ganz einfach auszudrücken: Während paranoide Menschen glauben, dass praktisch jeder hinter ihnen her ist, denken Verschwörungsideologen, dass ein paar mächtige Menschen hinter fast jedem her sind. Gesellschaftliche Verschwörungserzählungen sind also von paranoiden Wahnvorstellungen klar unterscheidbar: Die wahrgenommene Handlung richtet sich gegen ein Kollektiv als Nation, Gruppe oder Kultur, während ein paranoider Mensch Angst vor Verschwörungen gegen die eigene Person hat und dabei sogar die eigene Familie als Bedrohung ansehen kann. Paranoide Menschen misstrauen anderen grundsätzlich, während Verschwörungsideologen eher “dem System” insgesamt argwöhnisch gegenüberstehen.»
Der Zürcher Psychiater Daniel Strassberg geht in einem Interview mit der Wochenzeitung «WOZ) ebenfalls auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Paranoia und Verschwörungstheorie ein. Er sagt:
«Ich habe oft Patienten, die sich von einer geheimen Macht verfolgt fühlen. Aber ich würde unterscheiden zwischen Verschwörungstheoretikern und paranoiden Psychotikern.»
Zu den Unterschieden sagt Strassberg:
«Paranoide beziehen die Verschwörung auf sich. Sie sehen sich selbst als zentrale Opfer der Verschwörung. Deshalb gelingt es ihnen im Gegensatz zu Verschwörungstheoretikern selten, andere von ihrer Theorie zu überzeugen.»
Daneben gebe es jedoch zahlreiche Gemeinsamkeiten:
«Beide konstruieren eine Welt, in der es keinen Zufall gibt. Obwohl es um Geheimnisse geht, ist die Verschwörungstheorie eigentlich die Umkehr des Geheimnisses: Die Welt ist vollkommen erklärbar. Der Zufall, die Unwägbarkeit, das Unplanbare ist für Verschwörungstheoretiker wie für Paranoide die grösste Bedrohung. Und beide glauben an eine extrem zentralisierte Welt. Die Vorstellung, dass jemand alles plant, wirkt wie eine Entlastung.»
Diese Vorstellung kann zwar auch ziemlich bedrohlich wirken, «..aber offenbar nicht so bedrohlich wie der Zufall», stellt Strassberg fest, und weist darauf hin, dass die Vorstellung einer zentralisierten Macht dem Verschwörungstheoretiker auch eine ungeheure Bedeutung gibt: «Er wird ja nicht kontrolliert. Er hat das Spiel durchschaut. Darum auch das grosse Sendungsbewusstsein. Man hofft: Wenn ich es öffentlich mache, wird sich etwas ändern.»
Quellen:
Richard J. Evans: Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien, DVA Verlag 2020 (Quelle zu Richard Hofstadter inklusive der Zitate).
Katharina Nocun / Pia Lamberty: Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, Quadriga Verlag 2020.
Beitrag zum Thema «Paranoia» auf Wikipedia.
VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN: Die Sehnsucht nach der geheimen Weltregierung (WOZ)