Nach dem Anspruch der Kritischen Pädagogik soll Erziehung so erfolgen, dass mündige und kritische Subjekte gebildet würden, die auch die Gesellschaft nach emanzipatorischen Gesichtspunkten umgestalten können.
Das ist nicht grundsätzlich falsch und jedenfalls gut gemeint, könnte aber auch das Abdriften in Verschwörungstheorien und Extremismus fördern. Dazu hat der Politologe Yascha Mounk in seinem Buch «Der Zerfall der Demokratie» wichtige und interessante Überlegungen publiziert:
«Politik und Bildungswesen nahmen lange Zeit an, die grösste Gefahr ginge von einer unkritischen Denkweise aus. Politische Rattenfänger, so hiess es, könnten nur Leute ködern, die ihren Versprechungen unkritisch Gehör schenken. Um Bürger gegen die rechte Gefahr zu wappnen, müssten Eltern und Lehrer ihnen deshalb beibringen, Behauptungen stets kritisch zu hinterfragen.
Aber unkritisch sind die Anhänger der Neuen Rechten ja gerade nicht. Vielmehr hinterfragen sie unentwegt.»
Das zeigt sich auch im Bereich der Verschwörungstheorien. Yascha Mounk:
«Gaukelt die ‘Lügenpresse’ ihnen vor, Al-Qaida habe Flugzeuge in das World Trade Center gesteuert, so decken sie auf, dass in Wahrheit die CIA oder der Mossad hinter den Attacken stehen. Behaupten Computerexperten, dass Russland die Hacker-Angriffe auf Hillary Clinton und Emmanuel Macron zu verantworten hat, so finden sie heraus, dass die NSA die Operation selbst ausgeführt habe, um dem Kreml die Schuld in die Schuhe schieben zu können. Und erinnern Politiker an die Schoah, beweisen sie umgehend, dass es wissenschaftlich gar nicht möglich sei, Menschen in Gaskammern umzubringen.»
Das Aufkommen von Rechtspopulismus und Verschwörungstheorien ist also nicht Resultat unkritischer Akzeptanz, sondern laut Yascha Mounk «Folge mangelnden Grundvertrauens in freiheitliche Institutionen». Das sollte grundlegende Konsequenzen für die Pädagogik haben.
Schlussfolgerungen für die Pädagogik?
Yascha Mounk schreibt, das müsse Folgen haben «für das «Selbstverständnis vieler Pädagogen».
Die deutsche Pädagogik der Nachkriegszeit ging davon aus, dass blinder Gehorsam infolge der tief autoritären Traditionen des deutschen Bildungswesens zur Katastrophe des Nationalsozialismus beigetragen hatte. Das Ziel der Erziehung zu mündigen Bürgern, die faschistischen Tendenzen Widerstand leisten, war und ist nachvollziehbar. Die Idee war, dass die Demokratie nur gedeihen kann, wenn ein antiautoritäres Bildungswesen Kinder dazu erzieht, Eltern, Politiker, Institutionen und Vorgesetzte ständig kritisch zu hinterfragen. Der politische Imperativ des steten Hinterfragens hielt bald auch Einzug an den Universitäten, insbesondere in vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern. Es ging darum, Fakten zu hinterfragen, Begriffe zu dekonstruieren und Grundwerte zu problematisieren. Das kann dazu führen, unsere Gesellschaft pauschal als heuchlerisch zu entlarven und im Kontext postmoderner Theorien unsere gesamte westliche Denkweise als inhärent kolonialistisch zu entblössen.
In gewissen Hinsicht war dieser Ansatz durchaus erfolgreich. Heute gibt es kaum eine Idee oder Institution, die nicht permanent hinterfragt werden.
Yascha Mounk schreibt zum Resultat der kritischen Pädagogik:
«Eltern und Lehrer, Zeitungen und Parlamente, Schriftsteller und Wissenschaftler – sie alle treffen auf eine tiefe Skepsis, die recht häufig in lautstarker Ablehnung aufgeht. Der Wutbürger speist einen grossen Teil seiner Wut aus der steten Überzeugung, von Machthabern und Medienmachern belogen und betrogen zu werden.»
Damit haben wir die Grundlage für die Entwicklung einer Verschwörungsmentalität und für die Verbreitung von Verschwörungstheorien.
Yascha Mounk schreibt weiter:
«Nur das eigentliche Ziel, die Stärkung freiheitlicher Institutionen, hat die antiautoritäre Erziehung nie erreicht. Denn eine gut funktionierende Demokratie braucht überzeugte Demokraten, die das System zwar kritisch begleiten, ihm aber auch ein gewisses Mass an Grundvertrauen entgegenbringen. Wenn eine Grosszahl an Bürgern alles hinterfragt und schliesslich nichts und niemandem mehr traut, haben Extremisten freie Bahn.»
Grundprinzipien demokratiebejahrender Pädagogik
Yascha Mounk postuliert aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zwei Grundprinzipien demokratiebejahrender Pädagogik:
- In einer freiheitlichen Gesellschaft stehen Denkfähigkeit und Loyalität nicht miteinander in Konflikt. Kritik und eine grundsätzliche Loyalität zu staatlichen Institutionen schliessen sich nicht aus.
- Die deutsche Pädagogik soll sich wieder trauen, positive Identifikation mit dem eigenen Land zu stiften. Mounk sieht das durchaus als Gratwanderung. Es sei nicht einfach, in der Praxis zwischen einem identitätsstiftenden Patriotismus und einem deutschtümelnden Nationalismus zu unterscheiden. Und trotzdem: «Die politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass die Nation weiterhin eine der mächtigsten Triebkräfte der Politik ist. Überlassen wir das Feld des Patriotismus vollkommen den Feinden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, werden sie es verstehen, diesen in einen fremdenfeindlichen und brandgefährlichen Nationalismus zu verwandeln. Bei allen Bedenken sollte es deshalb Aufgabe der deutschen Pädagogik sein, einen moderaten, freiheitsliebenden Patriotismus zu entwickeln, der sich gegen nationalistische Anfälle zu wehren vermag.»
Abschliessen zu diesem Kapitel schreibt Yascha Mounk:
«Die sozialen Medien konnten nur deshalb eine so schädliche Wirkung auf die liberale Demokratie entwickeln, weil die moralischen Grundlagen unseres politischen Systems viel brüchiger sind, als wir zugeben wollen. Jeder, der einen Beitrag zur Wiederbelebung der liberalen Demokratie leisten will, muss daher dabei helfen, sie auf eine stabilere ideologische Grundlage zu stellen.»
Yascha Mounk, geboren 1982 in München, lehrt politische Theorie und komparative Politik an der Harvard University.
Quellen:
«Der Zerfall der Demokratie – Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht», von Yascha Mounk, Droemer Verlag 2018.
Beitrag zu Kritischer Erziehungswissenschaft/Kritischer Pädagogik auf Wikipedia.
Anmerkungen:
☛ Im Zusammenhang mit einem positiv besetzten Patriotismus wird oft von «Verfassungspatriotismus» gesprochen. Das trifft den Punkt eigentlich gut, ist als Begriff aber sehr abstrakt und «nüchtern».
☛ Wenn Yascha Mounk darauf hinweist, dass Denkfähigkeit und Kritik nicht im Gegensatz steht zu Loyalität zu einem demokratischen System, dann ist folgendes wichtig.
Zweifel und Misstrauen und darauf aufbauende Kritik sind wichtig für die Demokratie. Dabei ist es entscheidend, zwischen gesundem Misstrauen, gesunden Zweifel einerseits und toxischem Misstrauen, toxischem Zweifel andererseits zu unterscheiden. Siehe dazu:
Über toxische Zweifel und toxisches Misstrauen
☛ Verschwörungsgläubige sehen sich selbst oft als kritische Menschen, doch ist ihre Kritik in der Regel einseitig ausgerichtet auf staatliche Verlautbarungen, Expertenaussagen und ähnliches. Gegenüber den eigenen Quellen und sogenannten «Alternative Medien» sind sie weitgehend unkritisch. Deshalb sollte das Wissen darüber, worum es bei Kritik eigentlich geht, weiterverbreitet werden. Siehe dazu: Lob der Kritik
☛ Yascha Mounk hart dieses Kapitel seines Buches speziell auf die deutsche Pädagogik ausgerichtet, doch sind seine Gedanken gut auch auf viele andere demokratische Länder übertragbar