Ein Grossbrand zerstörte am 15. und 16. April 2019 teilweise das historische Bauwerk der Kathedrale Notre-Dame de Paris. Die Pariser Feuerwehr konnte den Brand nach etwa vier Stunden im Wesentlichen auf den hölzernen Dachstuhl begrenzen. Es gibt keinerlei Hinweise auf Brandstiftung.
Noch während die ersten Meldungen von der Katastrophe über die Nachrichtenticker liefen, ergoss sich ein Schwall an Falschmeldungen, Lügen und Verschwörungstheorien in die asozialen Medien Dieses Phänomen tritt bei vielen medial vermittelten Ereignissen auf. Und da die Kathedrale Notre-Dame ein Symbol des christlichen Europas ist, kam die Desinformationskampagne insbesondere aus rechtspopulistischen und rechtsextremen Netzwerken, die sich als Verteidiger des Abendlandes aufspielen.
Die Desinformationskampagne rund um den Grossbrand illustriert vor allem die intensive internationale Vernetzung der digitalen Rechten.
Die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum beschreibt Teile des internationalen Netzwerks, das nach dem Brand von Notre-Dame aktiv war. Sie schildert dabei Untersuchungsergebnisse des britischen Institute for Strategic Dialogue (ISD), das den Internetextremismus erforscht:
«ISD zählte Tausende Veröffentlichungen, die behaupteten, Muslime hätten das Feuer ‘gefeiert’, oder die Gerüchte und Bilder weitergaben, die beweisen sollten, dass es sich um Brandstiftung handelte. Eine unmittelbar danach eingerichtete Seite namens CasoAislado behauptete, in Paris feierten ‘Hunderte Muslime; dazu zeigten sie Screenshots, die zu belegen schienen, wie Facebook-Nutzer mit arabischen Nachnamen Fotos vom Brand mit Smileys veröffentlichen. Einige Stunden später twitterte Abascal dieses Bild und äusserte seine Abscheu vor diesen ‘Hunderten Muslimen’. Er verlinkte dazu einen Post des Alt-Right-Verschwörungstheoretikers Paul Watson, der das Bild wiederum von einem rechtsradikalen französischen Aktivisten namens Damien Rieu hatte. ‘Islamisten wollen die europäische und westliche Zivilisation zerstören, indem sie das Feuer von #NotreDame feiern’, schrieb Abascal: ‘Nehmen wir das zur Kenntnis, ehe es zu spät ist.’»
Solche und ähnliche Memes und Bilder seien daraufhin durch Fangruppen der nationalkonservativen, rechtspopulistischen spanischen Vox-Partei auf WhatsApp und Telegram verschickt worden:
«Angehörige dieser Gruppen verbreiteten ein englischsprachiges Meme, das ‘Paris vor Macron’ mit der Kathedrale von Notre-Dame und ‘Paris nach Macron’ mit einer Moschee an deren Stelle zeigte. Ausserdem verschickten sie Videos von Nachrichten über ein anderes Ereignis, das Verhaftungen und in einem nahen Auto gefundene Gasbomben zu zeigen schien. Es war ein Beispiel dafür, wie die amerikanische Alt-Right-Bewegung, europäische Rechte und Vox alle gleichzeitig und in mehreren Sprachen dieselbe Meldung verbreiteten, um in Europa und Nordamerika dieselbe Stimmung zu provozieren.»
Der Brand von Notre-Dame als Anlass für Desinformation
Man kann nicht genug betonen: Bei solchen Desinformationskampagnen geht es um die Delegitimierung von demokratischen Institutionen.
Sascha Lobo kommentiert im Spiegel:
«Ideologie, Ressentiment und Bauchgefühl vermengen sich mit echten, aber zumindest bisher nicht zusammenhängenden Nachrichten. Seit Monaten finden sehr viele Brandanschläge und Herabwürdigungen christlicher Kirchen statt, bei denen die Gebäude etwa mit Exkrementen beschmiert werden. Im Schnitt werden in Frankreich drei christliche Kirchen angriffen – jeden Tag. Die Aufklärung ist bisher eher die Ausnahme als die Regel, aber das interessiert rechte Verschwörungstheoretiker nicht, weil für sie alles ins Bild passt: Europa werde von Muslimen angegriffen und die Liberalen wollen das verschleiern.
Hier greift die klassische Unwiderlegbarkeit der Verschwörungsmythen: Wenn sich der Brand als Anschlag von Islamisten erweisen sollte, hatten sie Recht. Natürlich wäre das bei einem derart großen, christlichen Symbol wie Notre-Dame möglich. Ergibt aber die Untersuchung einen Unfall, einen bösen Zufall oder einen Anschlag anderer Gruppen, werden die Rechten das Ergebnis als Lüge aus Gründen der „political correctness“ und als Medienverschwörung bezeichnen und trotzdem sagen, sie hätten Recht gehabt. Und wenn sich nichts aufklären lässt, um so besser: Ungewissheit ist der beste Freund aller Verschwörungstheoretiker, weil dann Gegenbeweise unmöglich sind.»
Beispiele für diese Art der Immunisierung lieferte beim Brand von Notre-Dame auch die AfD. Die AfD Solingen postete auf Facebook:
«Würde wohl niemanden verwundern, wenn es ein Anschlag mit islamistischen [sic!] Hintergrund wäre. Doch noch weiss man nichts genaues, aber ob man später wirklich die Wahrheit preisgibt? Die Antwort könnte ja die Bürger verunsichern. […]»
Das heisst: Wenn es ein islamistischer Anschlag ist, hat die AfD es schon längst gesagt und hat Recht. Gehen Polizei und Justiz nicht von einem solchen Anschlag aus, verheimlichen sie die Wahrheit und die AfD hat wieder Recht….
Quellen:
Die Verlockung des Autoritären – warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist, von Anne Applebaum, Siedler Verlag 2021
Netzreaktionen auf Notre-Dame: Von rechts bis zum Rechtschaffenheitsreflex (Spiegel online)
Wie rechte Ideologen den Brand von Notre-Dame für ihre Zwecke instrumentalisieren (Watson)
Beitrag „Brand von Notre-Dame in Paris 2019“ auf Wikipedia.
Ergänzung:
Bei den Verschwörungstheorien rund um den Brand der Kathedrale Notre-Dame könnte auch der «Proportionality Bias» mitgewirkt haben ( = Verhältnismässigkeits-Fehlschluss). Er beschreibt die Annahme, dass «grosse Ereignisse» auch grosse Ursachen haben müssen. Eine derartige Katastrophe kann gefühlt kaum einfach durch eine weggeworfene Zigarette ausgelöst worden sein.
Siehe dazu: Proportionality Bias – Verhältnismässigkeits-Fehlschluss
Siehe ausserdem:
Welche politischen Interessen stehen hinter Verschwörungstheorien?