Nostalgie ist eine Stimmung, die eng mit Verschwörungstheorien verbunden vorkommen kann. Dabei gilt es allerdings zwischen verschiedenen Arten der Nostalgie zu unterscheiden.
Die verstorbene Literaturwissenschaftlerin und Professorin Svetlana Boym beschreibt in ihrem Buch „The Future of Nostalgia“ zwei Arten von Nostalgie: eine restaurative und eine reflektierende. Der Unterschied bestehe darin, wie bei diesen beiden Arten von Nostalgie die Vergangenheit rezipiert wird, sagt Hal McDonald Der Professor für Sprachen und Literatur an der Mars Hill University in North Carolina erklärt:
„Die restaurative Nostalgie blickt sehnsüchtig – sogar eifersüchtig – auf die Vergangenheit zurück und möchte sie in der Gegenwart neu erschaffen oder wieder erleben.“ Sie berge daher die Gefahr, sich in der Vergangenheit zu verfangen und sich auf eine Art und Weise nach ihr zu sehnen, die selbstzerstörerisch und potenziell schädlich ist. Im Gegensatz dazu geniesse reflektierende Nostalgie die Vergangenheit in dem vollen Wissen, dass sie tatsächlich Vergangenheit ist und nie wieder erlebt werden kann.
Restaurative Nostalgie & Verschwörungstheorien
Die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum bringt die restaurative Nostalgie in Verbindung mit Verschwörungstheorien. Sie stellt dazu die beiden Arten der Nostalgie gegenüber und bezieht sich dabei ebenfalls stark auf Svetlana Boym:
«Da ist zum einen die ’reflexive’ Nostalgie der Emigranten und Ästheten, die Nostalgie der Sammler von vergilbten Briefen und Fotos, die Nostalgie von Menschen, die sich gern alte Kirchen ansehen, ohne je den Gottesdienst zu besuchen. Reflexive Nostalgiker vermissen die Vergangenheit und träumen von ihr. Einige beschäftigen sich mit ihr und weinen ihr nach, vor allem ihrer persönlichen Vergangenheit, aber das bedeutet nicht, dass sie sich in die Vergangenheit zurückwünschen. Vielleicht weil sie tief im Inneren wissen, dass das alte Heim verfallen oder durch Luxussanierung kaputt restauriert ist, oder weil sie im Stillen einsehen, dass es ihnen sowieso nicht mehr gefallen würde. Es war einmal, da war das Leben einfacher und schöner, aber es war auch unsicherer oder langweiliger oder ungerechter.»
Diesem reflexiven Nostalgiker stellt Boym den restaurativen Nostalgiker entgegen.
Applebaum schreibt:
«Dabei handelt es sich um Menschen, die sich oft selbst gar nicht als Nostalgiker begreifen. Restaurative Nostalgiker geben sich nicht damit zufrieden, alte Fotos anzusehen und Familienstammbäume zu rekonstruieren. Sie sind Mythenschöpfer und Architekten, sie errichten Denkmäler und rufen nationalistische Bewegungen ins Leben. Sie wollen nicht über die Vergangenheit nachsinnen oder aus ihr lernen. Sie wollen ‘die verlorene Heimat wiederaufbauen und die Erinnerungslücken füllen’, so Boym. Viele erkennen ihre eigenen Fiktionen über die Vergangenheit nicht als das, was sie sind: ‘Sie glauben, bei ihrem Projekt gehe es um die Wahrheit.’ Sie haben kein Interesse an einem detailscharfen Bild der Vergangenheit, einer Welt, in der grosse Führer oft grosse Mängel und militärische Erfolge tödliche Nebenwirkungen hatten. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Vergangenheit auch ihre Schattenseiten gehabt haben könnte. Sie wünschen sich eine plakative Geschichte, und vor allem wollen sie jetzt in ihr leben. Sie wollen nicht zum Spass in Rollen der Vergangenheit schlüpfen, sondern sie wollen so leben, wie es ihre Vorfahren ihrer Ansicht nach getan haben, ohne jede ironische Distanz.»
Sündenböcke schaffen
Es sei kein Wunder, dass diese restaurative Nostalgie oft Hand in Hand mit Verschwörungstheorien und mittelgrossen Lügen gehe, schreibt Applebaum: «Sie müssen nicht so krass oder verrückt sein wie die Theorie der Verschwörung von Smolensk oder von George Soros.»
Es reiche schon, wenn sie ein paar Sündenböcke benenne, ohne gleich eine komplette Parallelwelt zu erschaffen. In der einfachsten Version biete die restaurative Nostalgie eine Erklärung, die Applebaum so beschreibt:
«Unser Land ist nicht mehr gross, weil jemand uns angegriffen, sabotiert und die Kraft genommen hat. Jemand – seien es die Zuwanderer, die Ausländer, die Eliten oder in der Tat die Europäische Union – hat den Lauf der Geschichte geändert und das Land zu einem Schatten seines früheren Selbst gemacht. Diese Identität, die wir einst hatten, wurde uns genommen und durch ein billiges Imitat ersetzt.»
Applebaum kommt zum Schluss:
«Wer auf dem Rücken der restaurativen Nostalgie an die Macht strebt, wird irgendwann damit anfangen, Verschwörungstheorien, alternative Geschichten oder alternative Flunkereien zu kultivieren, ob sie eine Faktenbasis besitzen oder nicht.»
Die restaurative Nostalgie sei mit anderen Emotionen verwandt, schreibt Applebaum, und verweist auf den deutsch-amerikanischen Historiker Fritz Stern (1926 – 2016), der ein ähnliches Phänomen als «Kulturpessimismus» bezeichnet habe (Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Klett-Cotta 2005).
Persönliche oder historische Nostalgie
Neben der Unterscheidung zwischen restaurativer und reflexiver Nostalgie gibt es noch eine Unterscheidung zwischen persönlicher und historischer Nostalgie.
Bei der persönlichen Nostalgie erinnert sich das Individuum an Einzelheiten aus seiner eigenen Vergangenheit. Häufig wird das ausgelöst durch Veränderungen im Leben und besondere Ereignisse wie Abschlussfeiern und Hochzeiten.
«Persönliche Nostalgie wird eher mit psychologischen Vorteilen assoziiert, zum Beispiel dem Entgegenwirken von Einsamkeit, der Förderung von Zugehörigkeitsgefühlen und gesunden Bewältigungsstrategien», erklärt die Psychologieprofessorin Krystine Batcho vom Le Moyne College im Bundesstaat New York. Auf die historische Nostalgie treffe das nicht zu. Sie ist an die Wertschätzung von Aspekten einer Epoche gebunden, die sich vor der Geburt einer Person ereignete und spiegelt eine Unzufriedenheit mit Aspekten der Gegenwart wider.
Es wird insbesondere die historische, kollektiv bewirtschaftete Nostalgie sein, die als Nährboden für Verschwörungstheorien wirken kann.
Ein Beispiel für die politische Wirkung der Nostalgie
In einem Interview mit der «Deutschen Welle» hat der Amerikanist und Experte für Verschwörungstheorien Michael Butter ein Beispiel für die politische Wirkung von Nostalgie beschrieben:
«Verschwörungstheoretiker wie Populisten treibt eine Nostalgie für die Vergangenheit um. Nehmen wir die Angst von weißen Männern in den USA, die sehen, dass ihre gesellschaftliche Position immer weiter unterminiert wird. Sie standen, selbst wenn sie arm waren, lange Zeit über allen, die nicht weiß waren – und sie standen über den Frauen. Und jetzt wird ihnen selbst das streitig gemacht. Das ist eine Abwehrreaktion gegen einen gesellschaftlichen Wandel, den man nicht akzeptieren möchte und den man als Verschwörung gut weg erklären kann, denn dann ist es ja völlig legitim, dagegen vorzugehen, weil man sich einem Komplott widersetzt.»
Zur Geschichte des Begriffs «Nostalgia»
«Nostalgia» war ursprünglich ein medizinischer Begriff. Er bezeichnete ein krank machendes Heimweh, das besonders Schweizer Söldner in der Fremde befiel. Wortschöpfer war der Schweizer Doktorand Johannes Hofer, der in seiner Dissertation von 1688 den Begriff prägte, indem er zwei griechische Wörter kombinierte: nostos („Heimkehr“) und algos(„Schmerz“). In seiner «Dissertatio medica de Nostalgia, oder Heimwehe» hat er dieses Phänomen erstmals ausführlich dargestellt.
Er untersuchte die Folgen der Nostalgie auf Schweizer Söldner und kam zu dem Schluss, dass es sich um eine Hirnerkrankung dämonischen Ursprungs handelte. Er schilderte die Symptome der Nostalgie, darunter eine zwanghafte Sehnsucht nach der Heimat, Appetitlosigkeit, Herzrasen, Schlaflosigkeit und Angstzustände. Er war überzeugt, dass die Söldner von ihrer zurückgelassenen Heimat geradezu besessen waren, was es Tiergeistern ermöglichte, in ihre Gehirne einzudringen und dort Schaden zu verursachen. Schweizer Militärärzte vermuteten später, dass die Nostalgie stattdessen durch das unablässige Scheppern der Kuhglocken in den Alpen ausgelöst wurde, welches die Gehirnzellen und das Trommelfell der Soldaten schädigte und so die gefährlichen Symptome bewirkte.
Erst später bekam der Begriff «Nostalgie» seine gegenwärtige nicht-medizinische Bedeutung. Heute versteht man darunter im Deutschen eine wehmütige Hinwendung zu vergangenen Zeiten, die in der Erinnerung oftmals stark idealisiert und verklärt reflektiert werden. Nostalgikern wird häufig Gegenwartsflucht vorgeworfen, doch kommt es hier stark auf die individuelle Ausprägung an. Eine starke Fixierung auf eine idealisierte Vergangenheit kann sowohl persönlich als auch gesellschaftlich negative Konsequenzen haben. Im Gegensatz dazu kann aber eine flexibel gehandhabte, persönliche, reflexive Nostalgie in manchen Situationen eine mögliche Bewältigungsstrategie sein.
Quellen:
Die Verlockung des Autoritären, von Anne Applebaum, Siedler Verlag 2021
Beitrag zum Thema «Nostalgie» auf Wikipedia.
Früher war alles besser? Die guten & schlechten Seiten der Nostalgie (NATIONAL GEOGRAPHIC)
Forscher über Verschwörungstheorien: „Nicht nur die Domäne von paranoiden Spinnern“ (Deutsche Welle)