Nihilismus ist mit Verschwörungstheorien an manchen Punkten eng verbunden und bereitet ihnen den Boden. Der Begriff «Nihilismus» ist abgeleitet von lat. nihil, nichts.
Was ist Nihilismus?
Der Begriff «Nihilismus» umschreibt einen Standpunkt oder eine Lehre der bedingungslosen Verneinung. Gemeint ist die Ablehnung von bestehenden Anschauungen oder Verhältnissen (Wirklichkeit), Werten (das Gute, Wahrheit) und Glaubenssätzen. Bereits beim Kirchenvater Augustinus (354 – 430) hiessen die an nichts Glaubenden nihilisti.
Die Geisteshaltung des Nihilismus wurzelt philosophisch im 18. oder 19. Jahrhundert. Geschichtlich zeigt sie sich insbesondere in drei Grundideen, nämlich dem Leugnen
1.) der Existenz von Wirklichkeit;
2.) der Existenz von gesellschaftlichen Werten und Ordnungen;
3.) der Gültigkeit von Wahrheit.
Der Philosoph André Glucksmann (1937 – 2015) befasste sich intensiv mit dem Nihilismus. Er versteht Nihilismus nicht als Relativismus des Guten, sondern des Bösen. Nihilismus ist für ihn die Vorstellung, dass es das Böse nicht gibt.
Es geht ihm also weniger um die Vorstellung, dass die großen moralischen Werte an Wert verlieren. Nihilismus besteht für ihn in der Vorstellung, dass es das Böse nicht gibt.
Seine Definition des Nihilismus geht auf die russische Literatur zurück (Turgenjew, Tschechow, Dostojewski). In einem Interview für die «Jüdische Allgemeine» sagt er dazu:
«Bei ihnen ist Nihilismus die Negation des Bösen, die Vorstellung, dass der Teufel nicht existiert: Nicht die Vorstellung, dass Gott nicht existiert – das ist seit den alten Griechen Teil der westlichen Kultur. Sondern die Idee, dass der Teufel nicht existiert. Ich rede nicht vom Teufel mit Hörnern und Spieß, sondern vom Unmenschlichen. Das ist meine Definition des Nihilismus. Nihilismus, das ist der dreizehnjährige Kindersoldat in Liberia mit einer Kalaschnikow, der dem deutschen Schriftsteller Hans-Christoph Buch auf dessen Frage ‘Könntest du damit nicht auch deine Schwester, deine Mutter verletzen oder töten’, antwortet ‘Why not!’»
Neue Nihilismen
Die Literaturkritikerin und Autorin Michiko Kakutani beschreibt in ihrem lesenswerten Buch «Der Tod der Wahrheit» einen «neuen Nihilismus» und liefert dazu Beispiele:
«Der neue Nihilismus zeigt sich, wenn Wikileaks geheime US-Dokumente enthüllt, ohne die Namen afghanischer Zivilisten zu tilgen, die Kontakt mit den amerikanischen Truppen hatten – eine Massnahme, bei der Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International warnten, sie könne für die benannten Personen ‘tödliche Auswirkungen’ haben.
Ebenso zeigt sich der neue Nihilismus, wenn Menschen mit dem Verfassen von Fake News Geld verdienen.»
Michiko Kakutani führt ausserdem den Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School als Beispiel an, das zu fürchterlichen Verschwörungstheorien geführt hat:
«Der neue Nihilismus findet seinen Ausdruck in grotesken Akten der Grausamkeit, wenn zum Beispiel die trauernden Eltern der in Sandy Hook getöteten Kinder belästigt und beschuldigt werden, sie hätten einen Schwindel inszeniert, und ähnliche Angriffe gab es auch auf die Schüler, die das Massaker an der Schule in Parkland überlebt hatten.»
Auch für die Historikerin und Schriftstellerin Anne Applebaum ist der Nihilismus ein zentrales Charakteristikum der Gegenwart. Sie schreibt in ihrem lesenswerten Buch «Die Verlockung des Autoritären»:
«Dieses Gerede von ‘Putin ist ein Mörder, aber das sind wir doch alle’ klingt genau wie Putins Propaganda, die oft auf die Aussage hinausläuft ‘ja, Russland ist korrupt, aber das sind doch alle’. Diese moralische Gleichmacherei höhlt jede Überzeugung, jede Hoffnung und jeden Glauben aus, dass wir die Ideale der Verfassung umsetzen können….
Wenn alle korrupt sind und schon immer waren, dann ist jedes Mittel recht, das zum Sieg führt.
Das behaupten natürlich seit jeher die anti-amerikanischen Extremisten, die Links- und Rechtsradikalen: Die amerikanischen Ideale sind unaufrichtig, die amerikanischen Institutionen sind verlogen, das amerikanische Verhalten im Ausland ist bösartig, die zentralen Begriffe des amerikanischen Projekts – Gleichheit, Gerechtigkeit, Möglichkeiten – sind nichts als Worthülsen. Nach Ansicht dieser Verschwörungstheoretiker stehen hinter allem in Wirklichkeit mächtige Konzerne oder Bürokraten des «Deep State», die Wähler manipulieren und mit den kitschigen Floskeln Thomas Jeffersons hinter sich bringen. Um diese Intriganten zu stürzen, ist jedes Mittel recht….
Diese Form der moralischen Gleichmacherei – die Behauptung, die Demokratie unterscheide sich im Grunde nicht von der Autokratie – ist bekannt und bei Autoritären seit Langem beliebt.»
Anne Applebaum sieht im Übrigen sehr wohl, dass das US-amerikanische System und die US-amerikanische Politik an vielen Punkten kritikwürdig ist. Aber Kritik benennt möglichst präzise Schwachpunkte oder konkretes Fehlverhalten. Kritik lässt sich auch ohne Nihilismus umsetzen. Oder noch deutlicher: Kritik lässt sich nur ohne Nihilismus wirksam umsetzen. Siehe dazu: Lob der Kritik
Truthiness & Bullshit
Nihilismus zeigt sich auch in den Phänomenen der Truthiness und des Bullshits.
Der Begriff «Truthiness» (abgeleitet von engl. truth, = Wahrheit) meint eine gefühlte Wahrheit, die unabhängig ist von der Faktenlage ist. Wenn es sich wahr anfühlt, ist es das auch, selbst wenn es nicht den wirklichen Gegebenheiten entspricht. Das ist Nihilismus in Reinform.
«Bullshit» ist ein Begriff, der von Harry Frankfurt in die Philosophie eingeführt wurde.
In der Alltagssprache sagen wir manchmal: “Rede keinen Bullshit!” – Gemeint ist dann: “Rede keinen Unsinn!” So ist der Ausdruck “Bullshit” hier nicht gemeint. Er beschreibt vielmehr ein Phänomen, das in der Öffentlichkeit grosse Bedeutung erlangt hat:
Es gibt Lügner und es gibt Bullshitter. Lügner kennen die Wahrheit, sagen aber die Unwahrheit. Bullshittern ist die Wahrheit egal. Sie erzählen, was ihren Zielsetzungen dient. Wenn sie reden, produzieren sie nur warme Luft. Bullshit scheint gerade in vielen Bereichen überhand zu nehmen. Siehe dazu umfassender: Vorsicht Bullshit!
Truthiness und Bullshit sind zutiefst nihilistisch und beste Voraussetzungen für die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Ebenso nihilistisch ist die übermässige Verwendung des Konjunktivs (Möglichkeitsform) anstelle von Fakten. Der Konjunktiv entlastet Verschwörungsgläubige davon, ernsthafte Argumente und Begründungen liefern zu müssen. Alles ist möglich, alles ist vorstellbar. Man muss doch noch fragen dürfen…. «Es könnte doch wahr sein».
Wenn Verschwörungsgläubige im Konjunktiv sprechen, stellen sie nur die Möglichkeit in den Raum, dass es so sein könnte, ohne sich tatsächlich konkret festzulegen. Nur schon dieser angedeutete Verdacht reicht bereits aus, um eine solche Verschwörungserzählung in den Köpfen der Menschen zu verfestigen. «Konjunktivisten» vermeiden die Anstrengung, die nötig ist, um sich der Wahrheit zu nähern. Sie wählen den bequemen, nihilistischen Weg.
Nihilismus & Verschwörungstheorien
Die Verbindungen zwischen Nihilismus und Verschwörungstheorien sollen nun an einigen Beispielen illustriert werden.
☛ Die unsäglichen nihilistischen Verschwörungstheorien rund um den Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School wurden oben schon erwähnt. Massgeblich zur Verbreitung dieser Lügen beigetragen hat der Verschwörungsideologe Alex Jones. Als «Werte» kennt dieser Hassprediger wohl nur die Anhäufung von Aufmerksamkeit durch Provokation und die Umsatzsteigerung in seinem Webshop. Hätte er noch einen Rest von anderen Werten, würde er merken, was für eine Ungeheuerlichkeit es ist, Eltern von getöteten Kindern als Krisenschauspieler zu diffamieren und zu bedrohen.
☛ In der «Wochenzeitung (WOZ) beschreibt Franziska Meister unter dem Titel «Nihilistischer Spieltrieb» die Hintermänner der QAnon-Verschwörungstheorie.
«Alles hat Bedeutung. Das ist kein Spiel. Lerne, das Spiel zu spielen. Q.»
Mit nebulösen Botschaften wie dieser, gepostet auf der Hate-Plattform «8chan», begannen ab Oktober 2017 die wilden Interpretationen und Verschwörungstheorien des QAnon-Kults im Internet zu wuchern. Dass auf der 8chan-Plattform neben Hassbotschaften jeder Art auch Attentatsvideos wie jenes von Christchurch veröffentlicht wurden, entlockt dem Gründer der Plattform nur ein Schulterzucken. Er betrachtet «8chan» als eine Art Energiekonzern: «Wir stellen den Strom zur Verfügung, die Nutzer können damit machen, was sie wollen.» Franziska Meister stellt in ihrem WOZ-Artikel die sechsstündige Dokumentation «Q – Into the Storm» vor, die auf HBO ausgestrahlt worden ist und die Hintermänner des «QAnon-Kults» aufdecken will. Die Dokumentation zeigt «nichts weniger als die ‘Banalität des Bösen’: Männer, die mit nihilistischer Lust an Manipulation Hass, Terror und Gewalt schüren – und das bloss als Spiel sehen», schreibt Meister zum Schluss ihres Textes.
Auch bei den Hintermännern des «QAnon-Kultes» fehlen jegliche Werte. Alles ist nur ein Spiel. Sie führen einen Informationskrieg gegen die demokratischen Institutionen der USA, tun aber so, als hätten sie mit Politik nichts zu tun. Dass die QAnon-Strippenzieher ihre Fans bis zum Sturm auf das Kapitol aufputschen – gehört einfach zum Spiel.
☛ Auch die Verschwörungstheorie vom Wahlbetrug bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 ist ein Beispiel für Nihilismus. Die Werte einer Demokratie spielen dabei keine Rolle mehr. Es geht nicht um das, worum es bei einer Wahl gehen sollte: Wer bekommt die Mehrheit? – Es geht nur darum zu vermeiden, dass das übergrosse EGO Donald Trumps einen Knacks bekommt, und um die Vermeidung eines friedlichen Machtwechsels. Dass dabei das Vertrauen in den Wahlvorgang zersetzt wird kommt den Verbreitern dieser Verschwörungstheorie nicht in den Sinn oder wird in Kauf genommen.
☛ Der Kochbuch-Autor und Verschwörungsideologe Attila Hildmann ist ein weiteres herausragendes Beispiel für nihilistische Exzesse. Er behauptete zum Beispiel, dass 100 000 US-Soldaten im Auftrag von US-Präsident Donald Trump in Bunkern und Höhlen unter Europa gefangen gehaltene Kinder befreien. Die Geschichte hat wie die meisten Verschwörungserzählungen Hildmanns keinerlei Realitätsgehalt. Ob sie wahr ist oder nicht, scheint keine Rolle zu spielen, auch nicht für die Fans von Attila Hildmann. Die Geschichte dient der Selbststilisierung von Attila Hildmann als Retter, Held und Wahrheitsverkünder.
☛ In Verschwörungstheorien rund um die Corona-Pandemie zeigen sich ebenfalls nihilistische Elemente. Beispielsweise wenn auf Corona-Protesten davon die Rede ist, dass wir in einer Diktatur leben. Das ist absurd, weil die Einschränkungen von einer Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen werden, weil sie von demokratisch legitimierten Organen verfügt wurden und vor Gerichten angefochten werden können. Und nicht zuletzt ist es absurd, weil die Corona-Protestler in einer Diktatur nicht demonstrieren dürften, ohne verhaftet, misshandelt, gefoltert oder gar getötet zu werden. Belarus und Myanmar zeigen beispielhaft, was eine Diktatur ist. Nihilistisch dabei ist die vollkommene Einebnung von Unterschieden. Das gilt auch für die Fälle, bei denen Corona-Protestler sich mit der Widerstandskämpferin Sophie Scholl oder mit der im KZ Bergen-Belsen gestorbenen Anne Frank vergleichen, oder sich einen gelben «Judenstern» mit der Aufschrift «ungeimpft» aufnähen.
☛ Nihilismus steckt auch in mehr oder weniger grosser Konzentration im toxischen Misstrauen, das im Umfeld von Verschwörungstheorien nicht selten auftritt. Gemeint ist ein pauschales, undifferenziertes Misstrauen, das zum Beispiel alle Fachleute, «Eliten», Politikerinnen und Politiker als korrupt hinstellt (allenfalls ausgenommen diejenigen, die die eigene Position vertreten). Die Verschwörungsmentalität, die davon ausgeht, dass die ganze Welt von verborgenen Mächten beherrscht wird, geht in eine ähnliche Richtung. Toxisches Misstrauen und Verschwörungstheorien nivellieren. Sie unterscheiden nicht mehr zwischen gut, mittelmässig und schlecht. Die menschliche Fähigkeit, sich ein Urteil über Dinge, Vorgänge und Personen zu bilden, wird negiert.
Anmerkungen zur nihilistischen Haltung
Nicht alle Verschwörungstheorien sind eng mit Nihilismus verbunden. Verschwörungsgläubige sehen sich manchmal im Kampf für das Guten und gegen das Böse. Sie sind erfüllt von Werten, auch wenn ihr Engagement fragwürdigen Zielen gilt und vielleicht irregeleitet ist.
Die oben aufgeführten Beispiele für Verschwörungstheorien, die mit Nihilismus verbunden sind, scheinen eher in einem Kontext von Narzissmus zu stehen. Es geht um Wirkung, Aufmerksamkeit, Ego. In diesem Sinne sind sie sehr zeitgemäss.
Fördern postmoderne Theorien nihilistisches Denken?
Möglicherweise haben seit Jahrzehnten geförderte postmoderne Theorien nihilistisches Denken und damit diesen Typ von Verschwörungstheorien begünstigt.
Michiko Kakutani schreibt:
«Es gibt viele verschiedene Richtungen und viele verschiedene Interpretationen des Postmodernismus, aber ganz allgemein gesagt, leugnet die postmoderne Argumentation, dass es unabhängig von der Wahrnehmung der Menschen eine objektive Realität gibt; sie behauptet, Kenntnisse würden immer durch das Prisma von Klasse, Ethnie, Geschlecht und anderen Variablen gefiltert. Indem er die Möglichkeit einer objektiven Realität ablehnt und die Begriffe von Sichtweise und Position an die Stelle der Idee von Wahrheit setzt, macht sich der Postmodernismus das Prinzip der Subjektivität zu eigen…..
Auch die Naturwissenschaften wurden zur Zielscheibe radikaler Postmodernisten. Diese vertraten die Ansicht, wissenschaftliche Theorien seien gesellschaftliche Konstrukte: Ihre Grundlagen seien die Identität der Person, die eine Theorie formuliert, und die Werte der Kultur, in der sie formuliert wird, demnach könne Naturwissenschaft für sich weder Neutralität noch allgemeingültige Wahrheiten beanspruchen…..
Das postmoderne Argument, alle Wahrheiten seien nur partiell (und abhängig von der eigenen Sichtweise), führte zu der damit zusammenhängenden Ansicht, man könne ein Ereignis auf viele gleichermassen legitime Wege verstehen oder darstellen. Beide begünstigten einen stärker von Gleichberechtigung geprägten Diskurs und ermöglichten, dass auch die Stimmen der zuvor Entrechteten gehört wurden. Sie wurden aber auch von jenen ausgenutzt, die anrüchige oder längst widerlegte Theorien vertreten wollten oder Dinge gleichsetzten, die man nicht gleichsetzen kann….
Klimawandelleugner, Impfgegner und andere Gruppen, welche Wissenschaft nicht auf ihrer Seite haben, verbreiten Phrasen, die auch in einem Seminar für Dekonstruktion nicht deplatziert wirken würden – Formulierungen wie ”viele Seiten“, ”unterschiedliche Sichtweisen“, ”Unsicherheiten”. ”mehrere Formen des Wissens”.»
Die Postmoderne neigt zur Ironisierung von Werten und einer «Welt in Anführungszeichen». Der italienische Philosoph Maurizio Ferraris schreibt:
«Die Postmoderne markiert den Eintritt der Anführungszeichen in die Philosophie: Die Wirklichkeit wird ”Wirklichkeit”, die Wahrheit ”Wahrheit”, die Objektivität ”Objektivität”, die Gerechtigkeit ”Gerechtigkeit”, der Sex ”Sex”.
Die postmoderne Relativierung der Wahrheit schützt davor, eine Wahrheit als absolut gültig zu setzen (Dogmatismus). Aber wenn der postmoderne Relativismus die Gleich-Gültigkeit aller Werte, Meinungen und ”Wahrheiten” fordert, geht der Respekt für Werte und Wahrheit verloren. Der Weg von diesem Beliebigkeitsdenken zum Nihilismus und zu nihilistischen Verschwörungstheorien ist dann nicht mehr weit.
Ausführlichere Texte zu diesem Thema:
☛ Weshalb die Fallen des Dogmatismus und des Relativismus zu vermeiden sind und wie das gehen kann:
Demokratie braucht eine diskursive Gesprächskultur – verteidigen wir sie!
☛ Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!
Was tun gegen Nihilismus?
Anne Applebaum befasst sich am Ende ihres Buches auch mit der Frage, was man dem Nihilismus entgegensetzen kann. Sie greift dazu Gedanken des politisch engagierten italienischen Schriftstellers Ignazio Silone (1900 – 1978) auf. Er lebte in einer Zeit, in der Extremisten von beiden Seiten gleichzeitig auf die Menschen einbrüllten.
Wie in unserer Zeit kamen viele seiner Landsleute daher zum Schluss, dass alle Politiker Gauner und alle Journalisten Lügner seien und dass man niemandem glauben dürfe. Im Italien der Nachkriegszeit existierte sogar ein spezieller Name für diese Skepsis und Antipolitik: der qualunquismo, den Egalismus. Silone wusste um die Folgen: «Politische Regime kommen und gehen, aber schlechte Angewohnheiten bleiben bestehen», konstatierte er. Und als schlechteste Angewohnheit betrachtete er den Nihilismus, «eine Krankheit des Geistes, die nur von denen diagnostiziert werden kann, die gegen sie immun oder von ihr geheilt sind, die aber von den meisten Menschen gar nicht erkannt wird, weil sie meinen, es handle sich um eine ganz natürliche Daseinsform: ‘So war es schon immer, und so wird es auch immer sein’».
Silone hat kein Wundermittel gegen diesen Nihilismus anzubieten, denn es gibt keines. Anne Applebaum führt die Gedanken Silones weiter aus:
«Es gibt keine endgültigen Lösungen und keine Theorien, die alles erklären. Es gibt keinen Fahrplan für eine bessere Gesellschaft, kein Lehrstück, kein Regelwerk. Wir können nichts anderes tun, als unsere Verbündeten und unsere Freunde – unsere Kameraden, wie er sich ausdrückt – mit grossem Bedacht zu wählen, denn nur gemeinsam mit ihnen ist es möglich, den Versuchungen der verschiedenen Formen des Autoritarismus zu widerstehen, die heute wieder im Angebot sind. Da alle Autoritarismen spalten, polarisieren und Menschen in verfeindete Lager treiben, müssen wir im Kampf gegen sie neue Bündnisse eingehen. Gemeinsam können wir alten und missverstandenen Begriffen wie Liberalismus neue Bedeutung verleihen; gemeinsam können wir Lügen und Lügner bekämpfen, und gemeinsam können wir darüber nachdenken, wie Demokratie im digitalen Zeitalter aussehen kann…..
Einigen mag die Ungewissheit unserer Tage Angst machen, doch diese Ungewissheit gab es immer. Der Liberalismus eines John Stuart Mill, eines Thomas Jefferson oder eines Václav Havel hat nie etwas für die Ewigkeit versprochen. Die Gewaltenteilung der demokratischen westlichen Verfassungen hat nie eine dauerhafte Stabilität garantiert. Freiheitliche Demokratien haben ihren Bürgern immer etwas abverlangt: Teilnahme, Diskussion, Einsatz und Auseinandersetzung. Sie haben immer verlangt, Stimmengewirr und Durcheinander auszuhalten, aber auch denen Kontra zu geben, die es anzetteln.»
Wichtig wäre es wohl auch, durch Mitarbeit oder Spenden Institutionen und Organisationen zu unterstützen, die für Demokratie und Rechtsstaat stehen und gegen Nihilismus.
Quellen:
Der Tod der Wahrheit, von Michiko Kakutani, Klett-Cotta Verlag 2018.
Die Verlockung des Autoritären, von Anne Applebaum, Siedler Verlag 2021.
Manifest des neuen Realismus, Maurizio Ferraris, Vittorio Klostermann Verlag 2014.
»Wir müssen uns dem Bösen stellen« – Interview mit André Glucksmann (Spiegel online)
Nihilistischer Spieltrieb, von Franziska Meister (Wochenzeitung, WOZ)
»Das Böse ist Realität« – Interview mit André Glucksmann (Jüdische Allgemeine)