Verschwörungstheorien deuten die Welt, indem sie Geschichten erzählen, indem sie Narrative transportieren.
Diese Geschichten bieten oft Antworten auf die Frage: «Warum geschehen schlimme Dinge guten Menschen?» («Why do bad things happen to good people?», nach Dieter Groh 1992).
Oder sie deuten solche Antworten zu mindestens an.
Dabei geht es nicht um reale Verschwörungen, sondern um Deutungsmuster. Es handelt sich dabei um Konstruktionen, die versuchen, Gegenwart und Vergangenheit zu erklären, sowie Prognosen über die Zukunft zu stellen.
Verschwörungstheorien transportieren also Narrative.
Zum besseren Verständnis dieser Narrative soll hier zuerst näher erklärt werden, um was es sich dabei handelt.
Narrativ wird seit den 1990er Jahren eine sinnstiftende Erzählung genannt, die Einfluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Narrative transportieren Werte und Emotionen, sind in der Regel auf einen Nationalstaat oder ein bestimmtes Kulturareal bezogen und unterliegen dem zeitlichen Wandel. In diesem Sinne sind sie keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit einer Legitimität versehen sind.
Bekannte Beispiele für Narrative:
☛ Der in den USA verbreitete Mythos „Vom Tellerwäscher zum Millionär“. Er verweist auf den «American Dream», wonach jeder, der hart arbeitet, den gesellschaftlichen Ausstieg schaffen kann. In diese narrative Rahmenerzählung lassen sich Biografien wie die diejenige des ehemaligen Starbucks-Eigentümers Howard Schultz oder der Moderatorin Oprah Winfrey einbetten.
☛ Der Aufruf zum Wettlauf zum Mond, der in den USA starke Kräfte gebündelt und die Nation hinter dieser Idee versammelt hat.
☛ Das «Helden-Narrativ» mit den klassischen Stationen, die ein Held oder eine Heldin absolvieren muss, um ans Ziel zu gelangen: Aufgebrochen, um eine bestimmte Mission zu erfüllen, treffen sie auf eine Reihe von (beinahe) unerfüllbaren Hindernissen, die sie jedoch meistern und damit ihre Aufgabe schlussendlich erfolgreich bestehen.
Den Ablauf solcher Geschichten haben wir in unzähligen Versionen schon gehört und als Narrativ verinnerlicht. Bekannte Beispiele für das Helden-Narrativ sind Odysseus, Siegfried aus der Nibelungen-Saga, Wilhelm Tell oder Johanna von Orléans.
Die Voraussetzung für den Erfolg von Narrativen liegt darin, dass das Erzählen von Geschichten als ein wesentlicher und ursprünglicher Bestandteil der menschlichen Kommunikation dient. Menschen beurteilen das, was sie hören, danach, ob es eine gute Geschichte ist: Klingt die Erzählung wahrscheinlich, ist sie in sich kohärent, lässt sie sich mit anderen Geschichten, die man schon kennt, in Einklang bringen?
Bestimmendes Element hinter einem Narrativ ist deshalb weniger ihr Wahrheitsgehalt, sondern ein gemeinsam geteiltes Bild mit starker Strahlkraft.
Narrative bieten Identifikation und gesellschaftliche Orientierung
Weit verbreitet ist die Auffassung, dass Narrative gefunden und nicht erfunden werden. Konsens ist zudem, dass Narrative eine Möglichkeit zur gesellschaftlichen Orientierung geben und Zuversicht vermitteln können. Sie dienen oft auch als Identifikationsangebot.
Auch im Bereich der Verschwörungstheorien gibt es eine Reihe von typischen Narrativen. Zum Beispiel:
☛ Das Narrativ vom «unterdrückten Experten». Zu sehen in der Corona-Pandemie am Beispiel von Wolfgang Wodarg und Sucharit Bhakdi.
☛ Das Narrativ von «geheimen Biolabor». Zu sehen in der Corona-Pandemie am Beispiel von diversen Desinformationsnarrativen. Siehe dazu:
GEHEIME LABORE: EIN GÄNGIGES NARRATIV FÜR VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN (EUvsDisinfo)
Was macht Verschwörungserzählungen attraktiv und plausibel?
Diese Verschwörungsgeschichten leiten ihre Plausibilität davon ab, ob sie sich mit einem übergeordneten Narrativ verbinden lassen. Das grundlegende Narrativ, auf dem alle Verschwörungstheorien letztlich basieren, ist das Narrativ vom Kampf von Gut gegen Böse. Verschwörungsgläubige identifizieren sich in dieser Auseinandersetzung mit dem Guten und nehmen den Kampf gegen die Machenschaften des Bösen auf. Die Bösen treten dabei in unterschiedlicher Gestalt auf: Als «Establishment», Geheimdienste, Pharmaindustrie, internationale Hochfinanz, «Mainstreammedien», Aliens etc.
Durch ihre dunkle Absicht, die Guten («uns») zu täuschen, werden sie zu «unseren» Kontrahenten.
Diese Motive sind uns so vertraut, dass jede neue Geschichte, die sich ihrer bedient, problemlos in bekannte Erzählmuster eingeordnet werden kann. Dadurch ist sie kohärent zu diesen Mustern und besteht infolgedessen den ersten Plausibilitätstest. Zur Plausibilität trägt auch bei, dass Verschwörungserzählungen oft starke Leidenschaften auslösen: Wut, Abscheu, Erschrecken.
Ihre Attraktivität ziehen Verschwörungsnarrative unter anderem aus dem Faszinosum, das dem Bösen eigen ist, aus der Verheissung radikaler Aufklärung, sowie aus dem Reiz, Spuren und Zeichen lesen zu lernen und (angebliche) Geheimnisse aufzudecken.
Das Grundnarrativ der Verschwörungsnarrative führt einen als Krise empfundenen Missstand monokausal auf einen bösen Plan zurück und auf das geheime Wirken einer sinisteren Gruppe. Gruppe, Plan und Geheimnis sind grundlegend für dieses Narrativ. Um ihr Publikum zu überzeugen, amalgieren Verschwörungsgläubige zudem Fakten und Fiktionen zu eindringlichen, überzeugenden Geschichten.
Narrative mit dichotomem Weltbild
Verschwörungserzählungen funktionieren entlang eines extremen Binarismus bzw. Dualismus. Sie entwerfen ein dichotomes Weltbild. Sie reduzieren komplexe Konfliktlagen und Kräfteverhältnisse auf kompromisslose Gegensätze: negativ gegen positiv, minus/plus, schwarz/weiss, nein/ja, Freund/Feind, Eingeweihte («Aufgewachte») gegen Ahnungslose («Schlafschafe»).
Die dichotomische Ordnung, in welcher die Gruppe der VerschwörerInnen dem moralisch integren Volk gegenübersteht, erklärt auch, warum Verschwörungsnarrative für populistische Parteien so anschlussfähig sind.
Sieh dazu: Verschwörungstheorien und Populismus
Verschwörungserzählungen werten die Erzählerposition in einer Art auf, wie es sonst nur religiöse und mythische Narrative tun. Die ErzählerInnen umweht nicht selten eine Aura der Eingeweihten, wodurch sie das Publikum in ihren Bann schlagen. Verschwörungsgläubige wissen scheinbar mehr. Und dieses Wissen ist zwar nicht richtig geheim, aber nur einem kleinen Kreis zugänglich (den Aufgewachten). Verschwörungserzählungen zeigen an diesem Punkt Gemeinsamkeiten mit esoterischem Wissen. Es ist daher nicht überraschend, dass Verschwörungstheorien in esoterischen Kreisen stark geteilt werden und verbreitet sind.
Siehe dazu: Esoterik & Verschwörungstheorien
Verschwörungserzählungen sind hochgradig auf ihre Ausgangshypothese fixiert. Ihre Spannung ähnelt derjenigen eines Magnetfeldes: Alles, was für die Verschwörung spricht, wird wie magisch angezogen. Hingegen wird alles, was dagegen spricht, entweder umgepolt oder abgestossen. Dadurch wird eine Widerlegung (Falsifikation) verunmöglicht.
Quellen:
Alternative Wirklichkeiten?, von Katrin Götz-Votteler und Simone Hespers, Transcript Verlag 2019.
Zeigbares: visuelle Narrativität in verschwörungstheoretischen Diskursen, Ute Caumanns, in: Verschwörungstheorien im Diskurs, Zeitschrift für Diskursforschung, 4. Beiheft, Beltz Verlag 2020.
Zur Theorie der Verschwörungstheorie: Politische, narrative und epistemische Aspekte, Harm-Peer Zimmermann, in: Verschwörungserzählungen, von Brigitte Frizzoni (Hg.), Königshausen & Neumann Verlag 2020.
Beitrag «Narrativ» auf Wikipedia.
Verschwörungstheorien als Erzählungen, von PD Dr. Christian Sieg (Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster).
Ausserdem:
Zum Thema „Narrative & Verschwörungstheorien“ gibt es hier einen Beitrag in der Enzyklopädie dieser Website:
«Gut gegen Böse» – das Grundnarrativ in Verschwörungstheorien