Verschwörungstheorien haben eher den Charakter einer Geschichte als den einer wissenschaftlichen Theorie. Und es sind oft spannende Geschichten, weil es um Verschwörung, Verrat und den Kampf von Gut gegen Böse geht. Ihre Plausibilität bekommen solche Geschichten durch übergeordnete Narrative, mit denen sie in Verbindung gebracht werden.
Was sind Narrative?
Als Narrative werden sinnstiftende Erzählungen bezeichnet, die Einfluss auf die Art haben, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Sie transportieren Werte und Emotionen, sind in der Regel auf einen Nationalstaat oder ein bestimmtes Kulturareal bezogen und unterliegen dem zeitlichen Wandel.
Narrative sind in diesem Sinne nicht beliebige Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit einer Legitimität versehen sind.
Ein bekanntes Beispiel ist der Mythos „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, der in den USA über lange Zeit die Nation hinter dieser Idee versammelt hat. Bestimmendes Element hinter Narrativen ist weniger ihr Wahrheitsgehalt, sondern ein gemeinsam geteiltes Bild mit starker Strahlkraft.
Narrative können eine Möglichkeit zur gesellschaftlichen Orientierung bieten und Zuversicht vermitteln. Es gibt aber auch Narrative, die auch einen bestimmten «Stamm» zugeschnitten sind und damit den «Tribalismus» bedienen. Ein Beispiel dafür liefert der Trumpismus mit seinem MAGA-Narrativ («Make America Great Again»). Er verspricht den Aufbruch in eine glorreiche Vergangenheit. Verschwörungstheorien wie die «Big Lie» vom Wahlbetrug schliessen hier nahtlos an.
Mit dem Begriff der «Narrative» lässt sich also einiges erklären, wobei er allerdings in letzter Zeit auch ein bisschen zu einem Modewort wurde.
Das Narrativ vom Kampf des Guten gegen das Böse
Welche typischen Narrative sind im Kontext von Verschwörungstheorien zu finden? Katrin Götz-Votteler und Simone Hespers schreiben dazu in ihrem Buch «Alternative Wirklichkeiten?»:
«Das grundlegende Narrativ, auf dem an sich alle Verschwörungsgeschichten basieren, ist das Narrativ vom Kampf Gut gegen Böse. Verschwörungstheoretiker∙innen identifizieren sich dabei mit den Guten und nehmen den Kampf gegen die Machenschaften der Bösen auf. Die Bösen können in unterschiedlicher Gestalt auftreten, wie als ‘Establishment’, Nachrichtendienste, Medien oder Aliens. Durch ihre Absicht, die Guten (‘uns’) zu täuschen, werden sie zu ‘unseren’ Antagonisten. Und obwohl das Böse (vermeintlich) mächtiger ist, gewinnt (so die Überzeugung) zum Schluss das Gute. Dieses Motiv ist uns so vertraut, dass eine neue Geschichte, die sich dessen bedient, problemlos in bekannte Erzählmuster eingeordnet werden kann. Damit ist sie kohärent zu diesen Mustern und besteht dadurch den ersten Plausibilitätstest.»
Narrative von der Heldenreise
«Helden-Narrative» verweisen auf die klassischen Stationen, die ein Held oder eine Heldin durchlaufen muss, um ans Ziel zu gelangen. Katrin Götz-Votteler und Simone Hespers beschreiben diese Stationen der Helden so:
«Aufgebrochen, um eine bestimmte Mission zu erfüllen, treffen sie auf eine Reihe von (fast) unüberwindbaren Hindernissen, die aber gemeistert werden; so wird die Aufgabe letztendlich erfolgreich erledigt. Den Ablauf derartiger Geschichten haben wir in unzähligen Versionen bereits gehört und als Narrativ verinnerlicht – man denke an Odysseus, an Siegfried aus der Nibelungensaga, an Johanna von Orléans oder an Frodo aus Der Herr der Ringe.»
Eine Heldenreise ähnlich wie im Film Matrix bietet auch die QAnon-Verschwörungstheorie. Samira El Ouassil und Friedemann Karig schreiben zur QAnon-Heldenreise in ihrem Buch «Erzählende Affen»:
«Zuerst einmal muss man ‘aufwachen’, also herausfinden, dass alles eine Lüge ist. Analog zu einer Szene des Films, in welcher der Protagonist zwischen zwei Pillen wählen muss, wird dazu gern das Motiv des red pill moment benutzt, also eines inciting incidents, einer Weggabelung, an der man sich entscheiden muss. Folgt man dem orthodoxen Wissen und damit der angeblichen Lüge – oder ist man bereit für die Wahrheit? Wer dieser vermeintlichen Wahrheit folgt, gehört zu einer ausgewählten Gruppe, die den restlichen Menschen intellektuell oder emotional überlegen ist, weil sie etwas verstanden hat, was den anderen noch verborgen bleibt.» (Seite 302)
Nach dem «Redpilling» halten sich Verschwörungsgläubige gerne für die «Aufgewachten», die im Gegensatz zu den «Schlafschafen» die Wahrheit erkannt haben. Das hebt sie ab von der Masse und kann ein Gefühl der Einzigartigkeit vermitteln.
Der grösste Held im QAnon-Kult ist natürlich Donald Trump. Er arbeitet hart daran, die Kinder zu befreien, die von liberalen Eliten gefangen gehalten und gefoltert werden, um ihnen das Verjüngungsmittel Adrenochrom abzuzapfen. Manchmal werden neben dem Möchtegern-Autokraten Trump auch reale Dikatoren wie Wladimir Putin und Xi Jinping als heldenhafte Retter verehrt. So zum Beispiel vom QAnon-Missionar Attila Hildmann, der auf Instagram schreibt:
«Auf der guten Seite kämpfen 100.000 US-Soldaten in den Bunkern unter Europa um die Kinder aus den Händen der Pädophielen zu befreien. Diese Aktion läuft weltweit und wir
dankenswerter Weise von Donald Trump, Putin und Xi gesteuert.» (Vollständigeres Zitat hier).
Anti-Mainstream-Narrative
«Nichts ist, wie es scheint», ist ein Grundelement in Verschwörungstheorien. Es funktioniert auch als eines der übergeordneten Narrative. Damit verbunden ist eine weitreichende Überzeugung, dass die Wahrheit hinter den Ereignissen ganz anders ist als das, was der öffentliche Mainstream-Diskurs in der Debatte geglaubt wird. Die Dinge in Wirklichkeit seien komplett anders, als wir denken. Verankert in diesem Narrativ, werden Verschwörungsgläubige reflexhaft eine Gegenposition zum Mainstream einnehmen, ob das nun die Corona-Pandemie, der menschengemachte Klimawandel oder der Ukraine-Krieg ist. Wer in diesem Narrativ gefangen ist, kann nicht mehr frei prüfen, was stimmt, und was nicht. Die reflexhafte Gegenreaktion basiert auch einer Gegenabhängigkeit. Siehe dazu:
Autoritätsaversion als Element in Verschwörungstheorien
Zu den Anti-Mainstream-Narrativen gehört auch die Überzeugung, dass alle sogenannten Mainstream-Medien lügen, dass ihnen nicht zu trauen ist, weil sie im Hintergrund von bösen Mächten gesteuert werden. Siehe dazu:
Lügenpresse als Einbildung – Medienkrise als Realität
Die Erzählung von den korrupten, gesteuerten Mainstream-Medien im Westen ist auch eines der Narrative, die seit mehr als 10 Jahren von der Kremlpropaganda über verschiedene Desinformationskanäle gezielt gestreut werden. An der Verbreitung beteiligt sind staatliche Propagandasender wie Russia Today (RT) oder Sputnik, aber auch deren Social-Media-Kanäle, die Troll-Fabrik in St. Petersburg und prominente Propagandahelfer im Westen wie der «Truther» und selbsternannte Friedensforscher Daniele Ganser. Siehe dazu:
Daniele Ganser: Medienkritik mit ideologischer Schlagseite
RT Deutsch (Russia today): Verschwörungstheorien als strategische Desinformation
Diese übergeordneten Anti-Mainstream-Narrative geben vielen verschiedenen Verschwörungstheorien ihre scheinbare Legitimität.
Verschwörungstheorien als Erzählung
Verschwörungstheorien deuten die Geschehnisse in der Welt, indem sie eine Geschichte erzählen. Mit dieser Geschichte antworten sie auf die verschwörungstheoretische Grundfrage, die Dieter Groh 1992 so formuliert hat:
«Why do bad things happen to good people?” (Warum passieren guten Menschen schlechte Dinge?).
Diesen Erzählungen geht es nicht um reale Verschwörungen, sondern um Deutungsmuster, um eine Konstruktion, die versucht, Gegenwart und Vergangenheit zu erklären, sowie Prognosen bezüglich der Zukunft zu machen.
Konstitutiv für diese Narrative sind die Elemente Gruppe, Plan, und Geheimnis. Im Grundnarrativ wird ein als Krise empfundener Missstand monokausal auf einen bösen Plan und das geheime Wirken einer Gruppe zurückgeführt. Dazu kommt noch der Akt des Aufdeckens, der dem Verschwörungsgläubigen die Rolle des Erzählers zuweist. Die Erzähler verschwörungstheoretischer Geschichten zeichnet oft ein grosses Mitteilungsbedürfnis und ein ausgeprägter Missionierungsdrang aus. Sie wollen ihre Leser, ihr Publikum überzeugen. Zu diesem Zweck verschmelzen sie Fakten mit Fiktionen zu eindringlichen, überzeugenden Geschichten (Siehe dazu auch: Halbwahrheiten als Bestandteil von Verschwörungstheorien).
Narrative beziehen ihren Erfolg daraus, dass das Erzählen von Geschichten ein wesentlicher und ursprünglicher Bestandteil der menschlichen Kommunikation ist. Menschen beurteilen das, was sie hören, danach, ob es eine gute Geschichte ist. Das entscheidet sich daran, ob sie wahrscheinlich klingt, ob sie in sich kohärent ist, und ob sie sich mit anderen Geschichten, die man kennt, in Einklang bringen lässt.
Quellen:
«Alternative Wirklichkeiten?», von Katrin Götz-Votteler und Simone Hespers, Transkript Verlag 2019.
«Erzählende Affen», Samira El Ouassil und Friedemann Karig, Ullstein Verlag 2021.
«Zeigbares: visuelle Narrativität in verschwörungstheoretischen Diskursen», von Ute Caumanns, in: Verschwörungstheorien im Diskurs, Zeitschrift für Diskursforschung, 4. Beiheft 2020, Beltz Juventa Verlag.