Mythen sind kollektive Geschichten, die Menschen für wahr halten und die oft tief und langanhaltend in der jeweiligen Gesellschaft verankert sind. Mythen beschreiben somit, wie Menschen die Welt um sie herum deuten und verstehen.
Viele Verschwörungstheorien sind mehr Mythen als Theorien. Jedenfalls sind Verschwörungstheorien und Mythen an vielen Punkten eng miteinander verbunden. Dann kann auch ein Begriff wie «Verschwörungsmythen» passend sein.
Der Mythos vom Sündenbock beispielsweise taucht oft in Verschwörungstheorien auf, ebenso der Mythos vom ewigen Kampf zwischen Licht und Schatten, zwischen Gut und Böse. Dieser Dualismus schliesst auch an alte religiöse Vorstellungen an.
Siehe dazu:
Gnosis und Verschwörungstheorien
Manichäismus & Verschwörungstheorien
Auch die Dolchstosslegende ist ein wiederkehrender Mythos, genauso wie der Mythos von einer übermächtigen Weltverschwörung, der sich in antisemitischen Verschwörungstheorien wie den Protokollen der Weisen von Zion zeigt. Daran schliessen modernere Verschwörungstheorien an wie der «Great Reset» oder die «Neue Weltordnung» (NWO).
Auch uralte antisemitische Mythen wie die Ritualmordlegende kommen immer wieder auf, so beispielsweide im QAnon-Kult. Dort geht die Erzählung so, dass liberale Eliten Kinder foltern, um aus ihrem Blut das angebliche Verjüngungsmittel Adrenochrom zu gewinnen.
Ein Beispiel für moderne Mythenbildung sind die Geschichten rund um «Neuschwabenland». In dieser küstennahen Gegend in der Antarktis soll bis in die Gegenwart das Deutsche Reich weiterexistieren. Siehe dazu:
Neuschwabenland – Mythos und Verschwörungstheorie
Verschwörungsmythen als Deutungsangebot
Wenn Verschwörungstheorien eng mit Mythen durchtränkt sind, wird oft auch von Verschwörungsmythen gesprochen.
Der Historiker Geoffrey Cubitt hat Verschwörungsmythen als Deutungsangebot definiert, mit welchem aktuellen und historischen Ereignissen ein Sinn durch Intentionalismus, Dualismus und Okkultismus verliehen wird: Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungsmythen nehmen also an, dass alles geplant sei und nichts aus Zufall geschehe (Intentionalismus). Sie trennen die Welt radikal in böse Verschwörer und unschuldige Opfer (Dualismus). Zudem behaupten sie, dass diese Verschwörungen im Geheimen vonstattengingen (Okkultismus). Die Zustimmung zu Verschwörungsmythen geschieht nicht nach rationalen Erwägungen, sondern affektiv. Bei Verschwörungsmythen handelt es sich daher nicht um Hypothesen, die verifiziert oder falsifiziert werden könnten. Diese Mythen helfen ihren Anhängerinnen und Anhängern, gesellschaftliche Widersprüche und emotionale Ambivalenzen bearbeitbar zu machen und dabei Gefühle wie Angst, Ohnmacht, Frustration oder Dissonanz zu kompensieren. Sie ermöglichen das zum Beispiel durch Komplexitätsreduktion und Personalisierung.
Welche Gefahren entstehen, wenn Mythen und Verschwörungstheorien sich zusammentun?
☛ Mit Mythen angereicherte Verschwörungstheorien bieten beste Voraussetzungen für Demagogie und damit für politische Propaganda.
Walter Ötsch und Nina Horaczek schreiben dazu in ihrem Buch «Populismus für Anfänger» (Westend Verlag 2017):
«Demagogie basiert immer auf Mythen…Mythen sprechen unmittelbar Gefühle an. Mythologische Stimmungen sind ein Hauptbestandteil des ideologischen Nebels, mit dem Demagogen die Wirklichkeit verhüllen. Mit Mythen können ganze Volksmassen an den Führer gekettet und ohne Aufgebehren (wie das Beispiel des Nationalsozialismus zeigt) in den Tod getrieben werden. Mythen nützen Elemente religiösen Glaubens und alter Sagen. Sie wenden sich nicht an den Verstand, sondern an das Gefühl und – in demagogischer Lenkung – an archaische, tiefliegende Sehnsüchte, Ängste und Rachegefühle.».
☛ Verschwörungsmythen sind gefährlich, weil sie Gruppen oder Individuen benennen, gegenüber denen Gewalt als letztes Mittel und Notwehrmaßnahme scheinbar gerechtfertigt sein soll. Manche Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungsmythen plädieren implizit oder explizit für neue Gewaltordnungen. Die Soziologin Gesa Lindemann versteht darunter den Versuch, Gewalt innerhalb einer bestehenden Ordnung zu mobilisieren. Ein Beispiel dafür ist die auf «Querdenker»-Demonstrationen aufgekommene Forderung nach einem „Nürnberg 2.0“ für die aktuelle Regierung. Mit dem Ruf nach „Nürnberg 2.0“ sind Fantasien verbunden, die auf einen «Volksgerichtshof» hinauslaufen, der die angeblich Verantwortlichen zu Gefängnisstrafen oder gar zum Tod verurteilt. Dem liegen Bestrafungs- und Rachephantasien zugrunde.
Aus Verschwörungsmythen ergibt sich für daran Glaubende infolgedessen auch ein politischer Gebrauchswert: Gewaltandrohungen gegen als Feinde eingestufte Individuen sollen auf diese Weise extralegal legitimiert werden. Das kann zu Gewaltaufrufen und Gewaltandrohungen führen, die ausserhalb der rechtmässigen Justiz stehen (also extralegal sind). «Hängt Pence» riefen beispielsweise Leute, die am Sturm auf das Kapitol in Washington beteiligt waren. Und der Oberverschwörungstheoretiker Donald Trump skandierte im Einklang mit seiner Fanbasis auf seine Konkurrentin Hillary Clinton bezogen «Lock her up!» (Sperrt sie ein!). Auf «Querdenker»-Demos wurden Feindbilder der Szene wie Bill Gates, George Soros, Christian Drosten oder Lothar Wieler auf Plakaten in Häftlingskleidung präsentiert.
Quelle:
ANTISEMITISCHE VERSCHWÖRUNGS- MYTHEN IN ZEITEN DER CORONAPANDEMIE
(Bundesverband Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus e.V.)
Ausserdem:
Zu Gefahren von Verschwörungsmythen: