Ein gemeinsamer Kern von Verschwörungstheorien ist das Prinzip der Mustererkennung. Alles wird in Muster eingefügt. Im Verlauf der Evolution hat sich dieses Prinzip bewährt. In der komplexen und globalisierten Welt kann es jedoch zu Fehleinschätzungen führen. Wir sehen oft auch dort Muster und Zusammenhänge, wo gar keine sind.
Neurologisch gibt es zwei Hauptgründe für unsere Neigung, Muster selbst da zu erkennen, wo keine sind:
Erstens ist unser Gehirn darauf angelegt, zahlreiche Dinge gleichzeitig zu verarbeiten, was eine optimale Voraussetzung für Mustererkennung, Assoziation und das Durchsuchen gigantischer Datenmengen ist.
Zweitens ist unsere Wahrnehmung ein aktiver Konstruktionsprozess. Dazu zählt auch unsere Fähigkeit, unsere riesige ‘Datenbank’ auf ein bestimmtes Objekt hin zu durchsuchen, den optimalen Treffer zu finden und diesen dann besagtem Objekt zuzuweisen. Wenn ein Klecks ähnlich wie ein Pferd aussieht, wird unser Gehirn die nötigen Anpassungen vornehmen und die erforderlichen Details ergänzen, sodass er für uns immer mehr nach Pferd aussieht.
Mustererkennung ist ein elementarer Bestandteil unserer Wahrnehmungsapparats. Diese Fähigkeit schafft Ordnung im Strom unserer Sinneseindrücke. Sie hilft uns auch dabei, die Welt durch die Identifizierung von Ursache und Wirkung zu verstehen.
Das Auffinden von Mustern fördert Überleben
Die Fähigkeit, Muster in der Umwelt zu erkennen, spielte in der Frühgeschichte der Menschheit eine wichtige Rolle. Sie diente dem Erkennen von Zyklen in der Natur, wie beispielsweise Ebbe und Flut oder den Jahreszeiten. Das Auffinden von Mustern half zudem, Gefahren zu reduzieren und vorherzusehen. So ist es hilfreich zu verstehen, dass den dunklen Wolken, das Gewitter, dem Donner der Blitz und dem Rascheln im Gebüsch manchmal ein Bär folgt.
Auch wenn dem Rascheln nicht immer ein Bär folgte, war es die evolutionär erfolgreichere Strategie, lieber einmal zu oft wegzurennen, obwohl dem Rascheln nur ein Eichhörnchen folgte, als einmal zu wenig auf der Hut zu sein. Denn nicht zu reagieren könnte der letzte Fehler vor der Weitergabe der eigenen Gene sein. Deshalb ist es für den Menschen die erfolgreichere evolutionäre Strategie, häufiger Muster zu sehen beziehungsweise Gefahren zu erwarten, als objektiv vorhanden sind. Mit anderen Worten sind wir die Nachfahren von Ahnvätern und Ahnmüttern, die eher dazu neigten übervorsichtig zu sein.
Dieses Verhalten macht den Menschen jedoch auch anfällig für den Glauben an vermeintliche Verschwörungen. Auf der Suche nach einem ordnenden Prinzip in der zum Teil chaotischen Umwelt sehen wir manchmal eben Muster, wo gar keine sind.
Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien verarbeiten laut wissenschaftlichen Erkenntnissen Informationen anders als ihre Mitmenschen. Sie erkennen in zufälligen Anordnungen häufiger ein Muster oder Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge.
Während also Mustererkennung ein uraltes, evolutionäres Konzept ist, um Wahrnehmungen in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen, haben wir es bei Verschwörungstheorien im Kern mit wildgewordenen, illusionären Mustererkennungen zu tun. Das deutet darauf hin, dass Verschwörungsgläubige nicht einfach «verrückt» sind, jedenfalls nicht häufiger als andere. Bei ihnen funktioniert nur ein evolutionärer Mechanismus der Reizverarbeitung etwas zu hochtourig.
Schon seit längerem zeigen wissenschaftliche Studien, dass «illusionäre Mustererkennung» umso wahrscheinlicher ist, je weniger Kontrolle man zu haben glaubt. Hier zeigt sich eine direkte Linie zu sozialen und klassischen Medien: Der konstante, sensationalisierende Nachrichtenstrom, die andauernde Konfrontation mit der geballten, zugespitzten Schlimmheit der Welt bewirkt ein Gefühl des Kontrollverlustes. Es erscheint dann als natürliche Reaktion, verzweifelt nach einem Sinn dahinter zu suchen. Menschen, die eine Situation gefühlt oder real nicht unter Kontrolle haben, neigen dazu, überall Muster, Verbindungen und Zusammenhänge zu sehen. Verschwörungstheorien sind ein Weg, mit der Komplexität der Welt umzugehen. gaukeln Sinnangebote vor und lindern die Ohnmacht. Leider lässt sich dieser Weg politisch und wirtschaftlich instrumentalisieren. Siehe dazu:
Welche politischen Interessen stehen hinter Verschwörungstheorien?
Anfälliger für illusionäre Mustererkennung und damit für Verschwörungstheorien sind Menschen, die sich einsam und ausgeschlossen fühlen. Die grossen, weltumspannenden Verschwörungserklärungen machen die Ausgeschlossenheit erträglicher, vor allem, wenn man nun zur Gruppe der «Aufgewachten» gehört.
Kontrollverlust wird von der Psyche als starke Bedrohung wahrgenommen. Das Gehirn sucht daher nach Strukturen, um die gegenwärtige Situation besser zu verstehen und um zukünftige Entwicklungen vorhersagen zu können. Eine Möglichkeit, das Umfeld zu strukturieren ist eben, nach Mustern zu suchen. Und wenn es keine gibt, werden welche kreiert und eingebaut.
Beispiele für solche Mustererkennung im Umfeld von Verschwörungstheorien lassen sich zahlreich finden.
☛ Die Verschwörungstheorie vom «Neuschwabenland» geht davon aus, dass die Nazis eine geheime Basis in der Antarktis errichtet haben, wohin sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs flüchteten. Hat man diese Geschichte akzeptiert, lassen sich viele kommende Ereignisse in das bestehende Muster einbauen: Es tauchen zwei deutsche U-Boote mehr als zwei Monate nach Kriegsende überraschend in Argentinien auf? Die haben führende Nazis von Neuschwabenland ins argentinische Exil gebracht! Grossbritannien errichtet Basen in der Antarktis? Ein Angriff der SAS auf Neuschwabenland! Die USA veranstalten Militärübungen in der Antarktis? Auch das ein (gescheiterter) Versuch, die Besatzung von Neuschwabenland auszuschalten!
☛ Der jüdische Investor und Philanthrop George Soros ist ein Lieblingsfeinbild der Verschwörungsgläubigen. Wer von der Realität dieses Feinbildes ausgeht, wird mühelos jedes unerwünschte Ereignis mit dem diabolischen Wirken von Soros in Verbindung bringen. Schliesslich lautet ja ein zentraler Grundsatz der Verschwörungtheorien: «Alles ist mit allem verbunden.»
So steckt Soros hinter der weltweiten Migration und steuert und finanziert sie sogar. Er löst auch Finanzkrisen aus und befeuert Aufstände und Unruhen jeder Art. Ähnlich vielfältig als Feinbild nutzbar ist gerade Bill Gates im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.
Mustererkennung im Experiment
Das Phänomen der Mustererkennung lässt sich gut illustrieren mit einem kurzen Filmchen, das auf den Psychologen Fritz Heider und die Psychologin Marianne Simmel zurückgeht und ursprünglich aus dem Jahr 1944 stammt. Es zeigt als mobile Elemente ein kleineres und ein grösseres Dreieck sowie einen Punkt. Dazu kommt ein Quadrat, das sich links oben öffnen und schliessen kann, und an dieser Stelle die drei mobilen Figuren unregelmässig eindringen lässt und wieder frei setzt. In den rein zufälligen Bewegungen der Objekte erkannten fast alle Versuchspersonen bestimmte Absichten und Ursachen. Sie sahen eine sinnvolle Geschichte, beispielsweise, dass das grosse Dreieck versucht, dem kleinen Dreieck Angst einzujagen. Die Schilderungen waren zum Teil hochemotional bis hin zu veritablen Eifersuchtsdramen.
Der Film ist auf YouTube zu sehen:
Die Studie ist hier zu finden (englisch):
An Experimental Study of Apparent Behavior
Mustererkennung bewirkt Komplexitätsreduktion und Kontingenzreduktion
Mustererkennung macht die Umwelt nicht nur übersichtlicher und verstehbarer (Komplexitätsreduktion). Sie reduziert auch Ohnmachtsgefühle gegenüber zufälligen Ereignissen (Kontingenzreduktion). So bieten Verschwörungstheorien Trost durch das Gefühl des Verstehens von an sich unkontrollierbaren Lebensereignissen. Besonders nötig haben dies Menschen mit einer niedrigen Unsicherheits- und Ungewissheitstoleranz. Allerdings behebt der Verschwörungsglaube hier nicht die Ursache, sondern wirkt eher wie eine Plombe. Förderlicher für die Entwicklung wäre die Stärkung der Ambiquitästoleranz.
Bernd Harder schreibt in seinem Buch «Verschwörungstheorien»:
«Der Zufall in seiner Sinnlosigkeit ist….der natürliche Feind jedes Verschwörungstheoretikers, der lieber dunkle Mächte am Werk sieht als sich mit Sinnlosigkeit und Ungewissheit abzufinden. Zudem neigen Verschwörungstheoretiker stärker zu heuristisch gestützten Entscheidungsverfahren und zu gelockerten Assoziationen. Ausgehend von einigen wenigen realen Elementen sowie vielen Ungereimtheiten und Lecks entsteht ein verstricktes Gedankenkonstrukt, in dem plötzlich eine Verschwörung aufscheint. Und wenn wir glauben, eine geheime Struktur gefunden zu haben, fühlen wir uns mächtiger. So betrachtet, erscheint der ‘geübte Konspirationstheoretiker’, wie der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spöttelt, ‘ein Genie der Mustererkennung.»
Quellen:
“Verschwörungstheorien”, Ursachen – Gefahren – Strategien, von Bernd Harder
„Verschwörungstheorien – früher und heute“
„Bedienungsanleitung für deinen Verstand“, von Steven Novella
Chemtrails an der Elbe – Darum funktionieren Verschwörungstheorien im Netz (von Sascha Lobo, Spiegel online)
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